Mord unter den Linden (German Edition)
nicht den Mörder, aber er
unterstellt, dass die Verantwortlichen nicht genug tun, um ihn zu überführen. Und
er zeigt der breiten Masse sogar einen Weg, wie man die Verantwortlichen dafür
zur Rechenschaft ziehen kann, nämlich mit einem Attentat auf den Leiter der
politischen Polizei. Nach Jahren der Unterdrückung und Verfolgung gibt es nicht
wenige Arbeiter, die nur auf eine solche Gelegenheit gewartet haben, um ihrer
aufgestauten Wut freien Lauf zu lassen. Es könnte also der Versuch
dahinterstecken, die Menschen in eine revolutionäre Stimmung zu versetzen oder
– anders ausgedrückt – sie aufzuhetzen.«
»Interessante
Schlussfolgerung«, sagte Vitell.
»Als Zweites frage
ich mich«, fuhr Otto fort, »wem ein solches Attentat, wenn der Täter irgendwann
wirklich zuschlägt, eigentlich schadet.«
»Dem Ansehen der
Monarchie«, sagte Vitell, »und natürlich den Opfern und ihren Familien.«
»Ich stimme Ihnen
vollkommen zu«, sagte Otto, »aber solche Gewalttaten haben immer auch
politische Auswirkungen. Erinnern Sie sich an das Attentat auf Wilhelm I . im Mai 1878: Unmittelbar nachdem der
Klempnergeselle Max Hödel Unter den Linden zwei Revolverschüsse auf den Kaiser
abgegeben und ihn nur knapp verfehlt hatte, lief eine groß angelegte Kampagne
an. Man beschuldigte die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, Hödel zu
dem Anschlag angestiftet zu haben. Ob es Beweise für diese Anschuldigungen gab,
interessierte die Bürger nicht. Und obwohl die Arbeiterpartei
höchstwahrscheinlich nichts mit dem Attentat zu tun hatte, geriet sie in
Erklärungsnot. Vergeblich versuchte sie, die Vorwürfe zu entkräften und sich
von ihrem früheren Mitglied zu distanzieren, aber niemand schenkte der Partei
Glauben. Als nur einen knappen Monat später Karl Nobiling mehr Treffsicherheit
bewies und Wilhelm I . mit seiner Schrotflinte
schwer verletzte, stand für die meisten Menschen von vornherein fest, dass
seine Tat ebenfalls sozialistisch motiviert war, obwohl über seine wahren
Absichten nie gesicherte Erkenntnisse gewonnen werden konnten.«
»Worauf wollen Sie
hinaus?«, fragte Vitell.
»In bürgerlichen
und adeligen Kreisen wird kaum ein Unterschied zwischen Anarchisten,
Sozialisten und Gewerkschaftern gemacht. Für sie sind alle Proletarier
potenzielle Unruhestifter und Revolutionäre. Allein die bloße Behauptung, dass
die Arbeiterpartei in derartige Gewaltakte verstrickt sein könnte, reicht aus,
um ihre mühsam erarbeitete Reputation zu untergraben. Auf der politischen Bühne
schaden Attentate der Arbeiterpartei am meisten.«
»Da ist natürlich
was dran«, sagte Vitell.
»Und noch etwas«,
fuhr Otto fort. »Die Verlängerung des Sozialistengesetzes ist im Januar nicht
etwa deshalb abgelehnt worden, weil die bürgerlichen Parteien die
Arbeiterbewegung nun akzeptieren, nein, sie ist abgelehnt worden, weil die
Reichstagsabgeordneten erkannt haben, dass das Verbot von sozialistischen
Aktivitäten einen gegenteiligen Effekt erzielt. Beim Erlass des Sozialisten-
gesetzes wählte nämlich nur knapp eine halbe Million Menschen die
Arbeiterpartei, mittlerweile ist die Zahl auf mehr als das Dreifache
angestiegen. Von der Aufhebung des Sozialistengesetzes erhoffen sich die
bürgerlichen Parteien nun einen Rückgang der Wählerstimmen, frei nach dem
Motto: Was erlaubt ist, ist nicht mehr so interessant.«
»Und inwiefern
betrifft das die aktuellen Entwicklungen?«, fragte Vitell.
»Möglicherweise
sollen die Gewaltakte das konservative und bürgerliche Lager aufrütteln und es
zu einem erneuten Umdenken bewegen. Möglicherweise sollen die Abgeordneten
glauben, dass die Gefahr durch die Arbeiter doch größer ist, als sie angenommen
haben. Möglicherweise sollen sie zu dem Schluss kommen, dass die Repressalien
unter dem Sozialistengesetz einfach nicht hart genug waren und dass in Zukunft
noch entschiedener durchgegriffen werden muss, wie zum Beispiel durch die
Expatriierung von sozialdemokratischen Arbeiterführern. In einer solchen
Stimmung würden die Abgeordneten wahrscheinlich sogar Regelungen zustimmen, die
das Sozialistengesetz an Schärfe weit überbieten würden.«
»Ich frage mich
gerade«, sagte Vitell nachdenklich, »wem die Gewaltakte dann eigentlich nutzen.
Wenn wir das wissen, haben wir vielleicht den Täter gefunden.«
»Da sind zuerst
einmal die Anarchisten«, sagte Otto. »Sie wollen durch die Anwendung von Gewalt
die Gesellschaft aufrütteln, auf die sozialen Missstände aufmerksam machen und
so
Weitere Kostenlose Bücher