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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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Unterstützung für ihre Ideen gewinnen. Ob dies durch Attentate zu erreichen
ist, halte ich allerdings für äußerst fraglich. Ich neige eher zu der Ansicht,
dass sich die meisten Menschen durch Gewalt abgestoßen fühlen, aber natürlich
könnte es durch die geschickte Verknüpfung von politischen Forderungen mit der
Kreuzigung zu einer Verbrüderung der Linken kommen. So gesehen könnte die
anarchistische Bewegung profitieren, wenn sie tatsächlich hinter dem Ganzen
steckt. Viel mehr aber nützt das angedrohte Attentat den politischen Gegnern
der Sozialisten. Den bürgerlichen Parteien wird Munition geliefert, und die
Arbeiterpartei gerät in Erklärungsnot. Ja, wenn ich es mir recht überlege,
könnte ich mir sogar vorstellen, dass der Täter aus dem bürgerlichen Milieu
stammt und nur so tut, als sei er Sozialist, um so die Arbeiterbewegung in
Verruf zu bringen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, inwieweit all
diese Betrachtungen für den Commissarius bei der Aufklärung von Nutzen sein
können.«
    »Da machen Sie
sich mal keine Gedanken«, erwiderte Vitell. »Manchmal gibt es Zusammenhänge, die
man nie für möglich gehalten hätte.«
     
    Auf dem
Bahnhofsvorplatz verabschiedete sich Otto herzlich von Kommerzienrat Vitell,
ging durch die Bahnhofshalle zu seinem Gleis und bestieg den Zug. Ferdinand war
schon da und kümmerte sich um die Fahrräder. Otto setzte sich in dem von ihm
reservierten Abteil ans Fenster. Die Polsterbank war mit rotem Samt bezogen und
nach der Gefängnispritsche äußerst bequem. Der Zug würde über Leipzig und Hof
fahren und nach siebzehn Stunden in München eintreffen. Da ertönte ein Pfiff,
und stampfend setzte sich die Lokomotive in Bewegung. Auf dem Bahnsteig winkte
ein Dienstmädchen mit einem Taschentuch, eine alte Frau wandte den Kopf ab, um
ihre Tränen zu verbergen. Vielleicht steht eines Tages Rieke da und weint, wenn
ich abfahre, dachte Otto.
    Er öffnete sein
Jackett und sank in das weiche Polster. Eine Weile grübelte er noch über seine
Inhaftierung, die Kreuzigung, den Anschlag auf das Schöneberger Nationaldenkmal
und die Morddrohung gegen den Leiter der politischen Polizei nach, aber je
weiter sie sich von Berlin entfernten, desto mehr verblassten die Ereignisse
der vergangenen Tage.
    Moses wühlte im
Proviantkorb und fragte: »Lauchpastete oder Hähnchenschenkel?«
    Otto spürte, wie
sein Magen knurrte. Im Gefängnis hatte es nur einen Kanten Brot und sauren
Kaffee gegeben. »Beides – und einen Becher Apfelmost.«
    Die Abteiltür
öffnete sich, und Ferdinand trat ein. »Ich hab die Fahrräder festgebunden,
damit ihnen nichts passiert.« Er setzte sich Otto gegenüber auf die Kante der
Polsterbank, faltete die Hände über dem Schoß und sah seinen Bruder
eindringlich an. »Du weißt doch, dass ich mit den Dunlop-Reifen
experimentiere.«
    »Nicht jetzt,
Ferdi«, sagte Otto. »Iss erst was.«
    »Lauchpastete oder
Hähnchenschenkel?«, fragte Moses.
    »Nur ein paar Radieschen«,
erwiderte Ferdinand und wandte sich wieder Otto zu. »Gestern Nacht hab ich
einen neuen Satz fertiggestellt und sie auf die Felgen gezogen. Heute früh bin
ich zur Rennbahn gefahren und hab sie getestet. Du wirst es nicht glauben, aber
mit den Dunlop-Reifen bist du auf tausend Meter mindestens drei Sekunden
schneller. Du kannst der Konkurrenz davonfahren, wenn du willst.«
    »Sind die Reifen
sicher?«
    »Ich hab mehrere
Belastungstests durchgeführt. Wenn ich nur den geringsten Zweifel hätte, würde
ich dir nicht raten, sie zu nehmen.«
    »Was sind
Dunlop-Reifen?«, fragte Moses.
    »Sie wurden von
einem Tierarzt aus England erfunden«, erklärte Ferdinand. »Er heißt John Boyd
Dunlop. Weil sein Sohn Johnny schimpfte, wie schlecht er mit seinem Dreirad
vorankam, klebte Dunlop dünne Gummiplatten zu Schläuchen zusammen, zog sie über
die Metallräder und pumpte sie auf. Johnny war daraufhin viel schneller als
seine Kameraden, und Dunlop wurde klar, welch ungeheuren Fortschritt seine
Erfindung bedeutete. Ende 1888 ließ er sich dann den ersten Fahrradluftreifen
patentieren. In Deutschland sind die Reifen noch nicht sehr bekannt, aber ich
bin mir sicher, dass schon bald jedes Fahrrad damit ausgerüstet sein wird. Es
ist einfach eine geniale Erfindung, auch weil die Reifen Erschütterungen
abfedern.«
    »Wie kommt es,
dass man mit ihnen schneller fahren kann?«, fragte Moses neugierig.
    »Kennst du dich
mit Physik aus?«
    Während Ferdinand
und Moses in die Gesetzmäßigkeiten der

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