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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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erwiderte
sie.
    »Ich lass die
Lesereise sausen. Ich will bei dir sein. Was ist los? Freust du dich gar
nicht?«
    »Hallo, Otto«,
sagte ein Mann und glitt in Ottos Blickfeld. Er wirkte jungenhaft und hatte ein
klar geschnittenes Gesicht, das einige Menschen als schön, andere als kühl
bezeichneten. Seine stahlblauen Augen blitzten, und der schwefelholzdünne
Schnurrbart war akkurat gezwirbelt. Er trug einen schwarzen eleganten Mantel
mit aufgesetztem Nerzkragen und einen Zylinder.
    »Jean-Paul.«
Während Otto zwischen Erstaunen und Freude schwankte, blickte er zwischen den
beiden hin und her. Anna hatte ihm gar nicht erzählt, dass sie mit seinem
besten Freund Eislaufen gehen wollte.
    Mit Jean-Paul
Beyer hatte Otto in ihrer gemeinsamen Schulzeit auf dem Gymnasium zum Grauen
Kloster nicht nur die zahlreichen Abenteuer, Ängste und Nöte Heranwachsender
geteilt, sondern auch eine gemeinsame Leidenschaft: das Radfahren. Anfangs
hatten sie sich auf die französischen Velozipede mit Tretkurbel gesetzt, in den
siebziger Jahren hatten sie auf den englischen Hochrädern geübt, und 1881
hatten sie gemeinsam an dem ersten Berliner Saalrennen teilgenommen. Heute
waren beide anerkannte Radsportgrößen und blickten auf eine Reihe von Erfolgen
zurück. Sie trafen einander nicht mehr wie früher täglich, dazu ließ der Beruf
ihnen keine Zeit, aber wann immer sie es einrichten konnten, trainierten sie
zusammen.
    Jean-Paul wandte
sich an Anna. »Jetzt bleibt uns nichts anderes übrig.«
    »Ich kann das
nicht«, erwiderte sie und glitt davon.
    »Warte«, rief Otto
ihr nach. »Was geht hier eigentlich vor?«
    »Es ist für alle
Beteiligten das Beste, wenn ich es kurz mache«, sagte Jean-Paul. »Anna erwartet
ein Kind. Morgen geben ihre Eltern die Lösung eurer Verlobung bekannt. Im März
heiraten wir in aller Stille. Tut mir leid, Sportsfreund, dieses Mal fährst du
als Zweiter über die Ziellinie.«

Im Zug nach München
    Vor gut einer
Stunde hatte der Schaffner ihr Schlafwagenabteil für sie fertig gemacht und die
Betten bezogen. Otto und seine Begleiter hatten sich die Nachthemden
übergestreift und sich mit Lektüre und Getränken eingerichtet. Jetzt lag Otto
auf der oberen Pritsche, schob den roten Samtvorhang zur Seite und spähte in
die Nacht. Erste Blitze erhellten tief hängende Wolken, die sich zu einer
dichten silbrig schwarzen Masse zusammengeschoben hatten. Sturmböen rüttelten
an Bäumen und kündigten ein heftiges Gewitter an.
    Otto ließ den
Vorhang zurückfallen und schaute zu Ferdinand hinüber, der auf der anderen
Seite des Ganges lag und mit weit offen stehendem Mund schnarchte. Dann schob
Otto den Kopf über den Pritschenrand und blickte nach unten, wo Moses das Kinn
mit den Händen abstützte und versunken in einem Buch las. Die Fettgasbeleuchtung
spendete ihm nur ein unruhiges gelbes Licht.
    »Du verdirbst dir
noch die Augen«, sagte Otto.
    Moses brummte
etwas.
    »Was liest du
denn?«
    »Das interessiert
dich doch sonst nicht, aber wenn du es unbedingt wissen willst: ›Der
Bürgerkrieg in Frankreich‹ von Karl Marx.«
    Otto hatte keine
Ahnung, wie der Junge an ein solches Buch gelangt war, aber er enthielt sich
eines Kommentars. Moses sympathisierte schon seit Längerem mit der
Arbeiterbewegung und vertrat radikale politische Ansichten, über die sie manchmal
diskutierten. Heute war Otto jedoch nicht nach einer intellektuellen Debatte
zumute.
    Moses klappte das
Buch zu und sah zu seinem Dienstherrn hinauf. »Und?«, fragte er. »Wirst du die
Dunlop-Reifen benutzen?«
    »Die Verlockung
ist natürlich groß«, sagte Otto, »aber ich habe sehr hart trainiert. Ich
brauche keinen technischen Vorteil, um ihn zu schlagen.«
    Moses' Lippen
verzogen sich zu einem verwegenen Grinsen, und Otto erwiderte es. In diesem
Moment waren alle Zankereien vergessen, in diesem Moment fühlten sie sich sehr
verbunden. Gemeinsam fuhren sie durch die Nacht, um sich der Herausforderung zu
stellen. Gemeinsam würden sie siegen oder untergehen.
    Dann war der kurze
Augenblick der Eintracht vorbei, und jeder hing wieder seinen eigenen Gedanken
nach. Moses nahm sein Buch zur Hand, und Otto rollte sich auf den Rücken.
Draußen war ein gewaltiges Donnergrollen zu hören. Regentropfen trommelten auf
das Dach des Waggons. Otto starrte an die Decke und malte sich aus, wie er nach
dem gewonnenen Rennen auf das Siegertreppchen klettern würde. Normalerweise
entspannte ihn diese Vorstellung, sodass er schnell in einen tiefen Schlaf sank

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