Mord unter den Linden (German Edition)
wurden starr und richteten
sich auf die Aschenbahn vor ihnen. »Ich hätte dir Anna lassen sollen. Sie ist
so unglaublich langweilig.«
In diesem
Augenblick ertönte der Startschuss. Jean-Paul schoss los. Auch die anderen
Rennfahrer traten in die Pedale. Panisch begriff Otto, dass er den Start
verpasst hatte, und stieß sich hektisch mit dem Fuß ab.
Als Letzter
überquerte er die Startlinie.
Wie konnte er nur
so dumm sein? Er war auf Jean-Pauls ältesten Trick hereingefallen. Schon früher
hatte er seine Konkurrenten mit spitzen Bemerkungen oder Beleidigungen
abgelenkt. Jean-Paul arbeitete mit allen Mitteln, wenn es um Sieg und
Niederlage ging, und am Ende triumphierte er meistens. Wahrscheinlich auch
heute.
Nein, nicht heute,
dachte Otto entschlossen und umklammerte die Lenkstange. Er biss die Zähne
zusammen und trat stehend an, mit aller Kraft, ohne Rücksicht auf Zerrungen
oder Verhärtungen in seinen Muskeln. Der Fahrtwind pfiff durch den dünnen
Trikotstoff. Noch vor der ersten Kurve holte er die Nachzügler, darunter
Brinkmann und Schmidt, ein und schloss zu Opel auf.
In seinen
Schenkeln explodierten Energiequellen, von denen er bisher nichts geahnt hatte.
Auf der Gegengeraden öffnete sich zwischen Opel und Heß ein Schlupfloch. Otto
wusste, wie gefährlich es war, mitten hindurch zu stoßen. Bei einer winzigen
Richtungsänderung, bei der kleinsten Unaufmerksamkeit eines der anderen Fahrer
würden sich die Lenker verkeilen, und alle drei würden stürzen.
Otto presste die Lippen
aufeinander. Nach diesem missratenen Start würden sich nicht viele Chancen
bieten, um eine gute Ausgangsposition für den Schlussspurt zu erringen. Dazu
war die Distanz zu kurz, dazu waren seine Konkurrenten zu ausgebufft. Er musste
es riskieren.
Heß, der innen
fuhr, drehte plötzlich den Kopf zur Seite, als hätte er das Überholmanöver
geahnt. Leicht lenkte er nach außen, um die Lücke zu schließen, aber da war
Otto schon zu dicht neben ihm. Wenn der junge Mannheimer sich selbst nicht
gefährden wollte, musste er Otto gewähren lassen. Otto zog vorbei und setzte
sich an die Spitze der Dreiergruppe.
Vorsichtig hob er
den Kopf. Urpani führte das Feld an. In seinem Windschatten folgten Jean-Paul,
Vater und Söhnlein. Aber das hieß nichts, die Spitzenfahrer testeten einander
nur. Der erste Ausreißversuch würde erst später erfolgen.
Otto schloss zu
Boie auf, der der Vierergruppe ganz vorn mit einigem Abstand folgte. In seinem
Windschatten ließ er sich durch die Kurve ziehen. Aus den Augenwinkeln sah er
hinter der Absperrung seinen Bruder, der winkte und hüpfte und mit den Händen
ein Sprachrohr formte. »Du kannst … Spurt«, schrie er. Mehr konnte Otto nicht
verstehen.
Bei der Einfahrt
in die Gerade nahm er Schwung auf, fuhr bis auf ein oder zwei Zentimeter zum
Hinterrad auf und scherte aus Boies Windschatten aus. Dieser blickte zur Seite
und trat wie verrückt in die Pedale. Kopf an Kopf schossen sie an der Tribüne
vorüber. Einige Zuschauer feuerten sie grölend an. Die Glocke läutete die
letzte Runde ein, und Otto musste seine ganze Kraft auf- bieten, um noch vor
der Kurve vor Boie einzuscheren.
Dann hatte er es
geschafft. Während des Zweikampfs hatten sich die beiden gegenseitig so
hochgestachelt, dass sie in einem wahnwitzigen Tempo zur Spitzengruppe
aufgeschlossen hatten. Allerdings spürte Otto nun die Grenzen seines Körpers.
Sein Atem ging unregelmäßig. Er bekam Seitenstechen und meinte, ersticken zu
müssen. Seine Waden fühlten sich an, als würden tausend Nadeln hineinstechen,
und in seinen Oberschenkeln baute sich ein solcher Druck auf, als könnten sie
jeden Moment platzen. Vor seinen Augen verschwamm alles, und sein Griff um die
Lenkstange lockerte sich.
Das Hinterrad
rutschte weg.
Blitzschnell
erkannte Otto, dass er im Begriff war zu stürzen. Instinktiv verlagerte er das
Gewicht und hatte sein Rad wieder in der Gewalt. Der Schreck brachte die
Klarheit zurück. Aus den Augenwinkeln erkannte er Boie, der zum Gegenangriff
ansetzte. Otto ignorierte den Schmerz, er ignorierte das Dröhnen in seinem
Kopf. Vor seinem geistigen Auge sah er Jean-Paul an jenem Wintertag bei der
Rousseau-Insel. Nun baute sich Hass in ihm auf, abgrundtiefer Hass, aus dem er
neue Kraft schöpfte. So lange hast du trainiert, dachte Otto. Du kannst jetzt
nicht aufgeben. Du musst die Kanaille besiegen!
Otto schnaufte wie
eine Lokomotive und trat in die Pedale. Boie konnte nicht mithalten und fiel
zurück. Nun fuhr Otto
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