Mord unter den Linden (German Edition)
direkt hinter Söhnlein in die letzte Kurve. Vor ihm
schoben sich die Fahrer nebeneinander, um beim Schlussspurt nicht behindert zu
werden. Obwohl Vater ganz außen fuhr und deshalb eine längere Strecke
zurücklegen musste, hielt er das Tempo.
Am Rande der Bahn
erkannte Otto Moses und Ferdinand, die hinter der Absperrung ein kleines Stück
mit ihm mitrannten. Beide hüpften und schrien: »Jetzt … Otto … Jetzt!«
Die Entscheidung
würde knapp ausfallen. Im Bruchteil einer Sekunde wägte Otto seine
Möglichkeiten ab. Auf der Innenbahn fuhr, wie zu erwarten gewesen war,
Jean-Paul. Bei ihm durchzubrechen, war nahezu unmöglich. Er kannte tausend Tricks,
um zu verhindern, dass ein Gegner ihn überholte. Auf ein Schlupfloch im
Mittelfeld zu warten, war zu riskant. Vielleicht würde es keines geben, weil
die Fahrer bis zur Ziellinie dicht nebeneinander blieben. Nein, er hatte nur
eine Möglichkeit, er musste die einzig freie Bahn wählen.
Die Außenbahn.
Im Scheitelpunkt
setzte er sich hinter Vater, bei dem keine Anzeichen von Erschöpfung
auszumachen waren. Er trat ruhig und gleichmäßig in die Pedale. Kurz vor der
Zielgeraden stellte Otto sich auf, schoss aus dem Windschatten und kämpfte sich
auf der Außenbahn auf die gleiche Höhe wie das Spitzenfeld. Er konnte nur Vater
erkennen. Was sich weiter links abspielte, konnte er nicht sehen. Er wagte
nicht, den Kopf weiter zu drehen, weil nun Zehntelsekunden die Entscheidung
brachten. Um den Luftwiderstand zu verringern, hielt Otto den Kopf geduckt und
presste die Arme an den Körper. Auch Vater hatte sich aufgestellt und wurde nun
noch etwas schneller. Der Kurzstreckenspezialist hatte zweifellos einen guten
Tag erwischt.
Otto hörte, wie
auf der Tribüne die Zuschauer schrien und jubelten. Sie spürten wohl, dass das
taktische Geplänkel nun vorbei war. Jetzt näherten sich fünf Topfahrer Kopf an
Kopf der Ziellinie und kämpften verbissen um jeden Zentimeter.
Obwohl seine Beine
pumpten, obwohl seine Hände die Lenkstange fest umklammerten, spürte Otto
seinen Körper kaum noch. Noch nie hatte er sich so erschöpft, so ausgebrannt
gefühlt. Auch Vater war die Anstrengung jetzt deutlich anzusehen. Sein Gesicht
war hochrot, dicke blaue Venenstränge zeichneten sich am Hals ab, sein Kopf
drohte jeden Moment zu platzen.
Mit einer
übermenschlichen Kraftanstrengung pumpte Otto die Pedale ein letztes Mal
herunter und passierte die Ziellinie. Hatte er es geschafft? Als er den Kopf
hob, sah er, wie die vier anderen, Jean-Paul, Georg Söhnlein, Alwin Vater und
Franz Urpani, neben ihm ausrollten. Keiner von ihnen riss die Arme hoch,
offenbar wussten auch sie nicht, wer gewonnen hatte.
Völlig entkräftet
und schwindlig vor Atemnot stützte sich Otto auf das Fahrrad. Vereinzelt
erklangen Rufe, aber die Entscheidung musste knapp gewesen sein, denn auch das
Publikum wartete gespannt. Die Zeitnehmer steckten die Köpfe zusammen und
berieten sich, dann ergriff der Schiedsrichter die Flüstertüte und rief: »Sieger
ist der Fahrer mit der Startnummer fünf!«
Otto hatte gar
nicht darauf geachtet, welche Nummer sein Bruder mit Sicherheitsnadeln an
seinem Trikot befestigt hatte. Jetzt sah er sich nach Jean-Paul um, der nur
wenige Schritte von ihm entfernt stand. Auf seinem Rücken war die Startnummer
drei angebracht. Vater hatte die Eins. Konnte es sein, dass …? Otto griff
nach hinten und riss sich seine Rückennummer herunter.
Eine schwarze Zahl
sprang ihm in die Augen.
Es war die Fünf.
Otto konnte es
kaum glauben.
Er hatte Jean-Paul
geschlagen.
Er hatte gesiegt.
Fassungslos und
mit weichen Knien stieg er vom Rad und sah sich um. Die Welt drehte sich um
ihn. Auf den Rängen jubelten die Zuschauer.
Moses kam
angerannt und fiel ihm um den Hals.
Ferdinand sprang
um sie herum und erzählte dem Himmel, dass das Maschinenöl den entscheidenden
Ausschlag gegeben hatte.
Alwin Vater, der
mit nur einer Zehntelsekunde Rückstand Zweiter geworden war, wie der
Schiedsrichter soeben bekanntgab, griff nach Ottos Hand und schüttelte sie
anerkennend.
Jean-Paul trat
heran und klopfte ihm auf die Schulter, so als wären sie nur Rivalen auf der
Rennbahn. »Das war nicht schlecht«, sagte er gönnerhaft. »Aber morgen geht's
über die zehntausend Meter. Da kannst du zeigen, ob du was gelernt hast.«
Jean-Paul zwinkerte ihm zu und schob sein Rad davon.
Dann kam Anna:
»Herzlichen Glückwunsch. Das war ein großartiges Rennen.«
Otto nickte.
»Wir haben uns
lange nicht gesehen«,
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