Mord unter den Linden (German Edition)
klammerte er sich daran wie ein
starrköpfiges Kind und tat so, als würden Sieg oder Niederlage davon abhängen.
Mit jeder Pore
seines Körpers spürte Otto, wie der Moment der Wahrheit näher rückte. Er nahm
einen Becher, füllte ihn mit Wasser und warf ein Stollwerk'sches Brausebonbon
hinein. Mit starrem Blick beobachtete er, wie es sich zischend auflöste. Er war
davon überzeugt, dass dieses Getränk eine stimulierende Wirkung auf sein
Nervensystem hatte und ihm half, beim Startschuss schneller zu reagieren. Mit
kleinen Schlucken trank er den Becher leer und wandte sich wieder Ferdinand und
Moses zu. Gerade gossen sie Petroleum in die Schmierkapsel.
»Das Rad jetzt
umdrehen«, ordnete Otto an.
Moses verdrehte
die Augen. »Ja, danke, großer Meister. Wir reinigen das Tretkurbellager ja erst
zum dreitausendsten Mal. Wir wissen, wann –«
»So langsam hab
ich genug von deinen Frechheiten«, platzte Otto heraus. »Ständig motzt du rum,
ständig widersprichst du mir. Weißt du eigentlich, wie gut es dir bei mir geht?
Hast du eine Ahnung, wie viel Freiheiten ich dir lasse? Aber wenn es dir bei
mir nicht passt, kannst du dir einen anderen Dienstherrn suchen. Komm – gib mir
die Ölkanne. Ich kann deine Trödelei nicht mit ansehen. Ich mach das selbst.«
Moses wehrte ab.
»Nein. Hör auf! Lass mich!«
»Na gut, aber dann
leg gefälligst einen Zahn zu«, sagte Otto, richtete sich auf und erstarrte in
der Bewegung. »Sie sind da.«
Wenige Meter von
ihnen entfernt stellten Jean-Paul und ein Gehilfe den Sattel auf die richtige Höhe
ein. Daneben standen Anna, eine junge, hübsche Gouvernante mit rotbraunem Haar
und die Kinder. Die beiden kleinen Mädchen trugen weiße Kleidchen, die jüngere
nuckelte am Daumen. Ein Junge im Matrosenanzug beobachtete die Bemühungen
seines Vaters mit ernster Miene.
Als Anna
herüberblickte, sah Otto ihr direkt in die Augen. War das der Moment, den er so
viele Jahre gefürchtet und herbeigesehnt hatte? Seine frühere Verlobte sah
verändert aus. Ihr Gesicht war schmaler geworden, die Wangenknochen zeichneten
sich deutlich ab. Das Mädchenhafte war verschwunden, stattdessen wirkte sie
erfahren und fraulich, aber auch etwas abgespannt. Ihre Augen hatten einen
eigentümlichen Glanz, den Otto nicht zu deuten wusste.
Da klopfte
Jean-Paul auf den Sattel, offenbar das Zeichen, dass er nun zur Startlinie
gehen würde, und Anna senkte den Blick. Jean-Paul ließ sich von den Kindern
umarmen und gab Anna einen flüchtigen Kuss.
Sofort wirbelte
Otto herum und sagte: »Ich muss auch los.« Er griff nach dem Lenkrad, und sein
Blick wanderte nervös von Ferdinand zu Moses und wieder zurück. »Danke … also
dann … jetzt geht's los.«
»Das Fahrrad ist
in einem perfekten Zustand«, sagte Ferdinand. »Alles ist gut geschmiert. Ich
drücke dir fest die Daumen.«
Auch Moses
wünschte Otto viel Glück und ermahnte ihn: »Verausgabe dich nicht. Warte auf
den Schlussspurt.«
»Werd ich machen,
mein Junge«, sagte Otto und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Tut mir leid,
wenn ich eben etwas grob war.«
Otto rollte das
Rad auf die Fahrbahn, stieg auf den Sattel und trat in die Pedale. Obwohl das
Publikum johlte, obwohl der Schiedsrichter die Fahrer mit seiner Flüstertüte
vorstellte, obwohl Händler überall auf der Tribüne ihre Waren anpriesen, obwohl
es Tausende Möglichkeiten gab, sich ablenken zu lassen, ballte sich sein
Bewusstsein zusammen. Die nervöse Unruhe war mit einem Schlag verflogen. Er
fühlte sich klar, federleicht, beinahe über den Dingen schwebend. Er
konzentrierte sich ganz auf den einen Punkt – den Startschuss.
An der Startlinie
nahm er neben Jean-Paul Aufstellung. Die Hände an der Lenkstange, das Oberrohr
zwischen den Beinen, den rechten Fuß auf dem oben stehenden Pedal und den
anderen auf dem Boden wartete er. Dann blickte er unauffällig zu seinem
Jugendfreund und Kontrahenten hinüber. Um Jean-Pauls Mundwinkel bildeten sich
bereits Fältchen, auch wirkte er etwas magerer als früher, aber ansonsten hatte
er sich nicht verändert. Sein schönes Gesicht war kühl wie eh und je.
Otto wunderte
sich, wie ruhig er blieb. In ihm war keine Feindschaft, in ihm war kein Hass,
er wollte nur diese Kanaille in Grund und Boden fahren.
Plötzlich sah
Jean-Paul ihn an. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen. »Damals«, sagte er.
»Ich hab einen Fehler gemacht.«
»Das interessiert
mich nicht mehr.«
»Du verstehst mich
nicht.« Jean-Pauls Grinsen verschwand, seine Augen
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