Mord unter den Linden (German Edition)
Meister war eigentlich in Bestform gewesen und
hatte Jean-Paul noch am letzten Sonntag in Köln geschlagen. Jaide waren die
besten Chancen auf den Titel eingeräumt worden. Jetzt saß er mit einem Gipsbein
auf der Tribüne und schimpfte wahrscheinlich wie ein Rohrspatz.
Nun galt Jean-Paul
als Favorit. Mit Durchsetzungsvermögen beim Start, außerordentlichen
Steherqualitäten und genügend Kraft für den Spurt in der Zielgeraden verfügte
er über alle Fähigkeiten, die ein Rennfahrer zum Siegen brauchte. In den
vergangenen Jahren war er immer auf einen Podestplatz gefahren. Bei ihm muss
ich mit allem rechnen, dachte Otto, aber das weiß ich ja nur zu gut.
Auch auf Georg
Söhnlein musste er achten. In der Rennstatistik belegte er nach Theodor Jaide
und Jean-Paul den dritten Rang mit neun ersten und einem dritten Platz. Otto
war noch nie gegen ihn angetreten, wusste aber, dass Söhnlein im Spurt manchmal
einbrach, seine einzige wirkliche Schwäche. Daneben zählte Alwin Vater zum
Kreis der Favoriten. Er war auf kurze Distanzen spezialisiert und hatte schon
mehrere Rekorde gebrochen. Wenn er einen guten Tag erwischte, würde er kaum zu
schlagen sein. Und schließlich räumte Otto Franz Urpani gute Chancen ein. Er
galt als äußerst solide, fleißig und hartnäckig. Obwohl viele Beobachter den
kleinen, schmächtigen Österreicher unterschätzten, durfte man ihn niemals
abschreiben. Er fuhr mit großer Abgeklärtheit und nutzte jede noch so kleine
Unachtsamkeit seiner Gegner gnadenlos, um am Ende auf dem Treppchen zu stehen.
Die übrigen Teilnehmer, darunter der junge Carl Heß aus Mannheim, die
Langstreckenspezialisten Leestemaker und Boie, die Neulinge Schmidt und
Brinkmann und der alte Haudegen Opel, würden kaum auf einem der drei ersten
Plätze landen.
Auch Otto war in
den Augen der meisten Fachleute ein Außenseiter. Zwar vergaß kein Reporter,
seine früheren Hochrad-Triumphe, sein Kämpferherz und die diesjährigen Siege in
Leipzig, Breslau und Frankfurt zu erwähnen, aber im Allgemeinen war man der
Meinung, dass er seine besten Jahre hinter sich hatte. Nur der Herausgeber der
Fachzeitschrift »Deutscher Radfahrerbund«, ein Freund und Förderer, hatte ihn
zum Favoriten ausgerufen, was jedoch weniger mit seinem Glauben an Otto
zusammenhing, als vielmehr mit seiner angeborenen Zank- und De- battierlust.
Die Wetten standen eins zu neun Komma sieben fünf gegen Otto.
Inzwischen neigte
sich die Hochrad-Meisterschaft über zehntausend Meter dem Ende zu. August Lehr
setzte sich mit scheinbarer Leichtigkeit von seinen Konkurrenten ab und siegte
mit deutlichem Vorsprung in einer Zeit von achtzehn Minuten und sieben
Sekunden. Die Zuschauer erhoben sich von den Plätzen und applaudierten, um
diese eindrucksvolle Leistung zu würdigen.
Während des
gesamten Rennens hatte Otto den Aufwärmbereich nicht aus den Augen gelassen.
Jean-Paul war noch immer nicht erschienen. Würde der einstige Freund etwa
kneifen? Das wäre fürchterlich. Dann wäre die ganze Schinderei umsonst gewesen!
Gedankenverloren
griff Otto nach seinem Fahrrad, stieg in den Sattel und fuhr sich langsam ein.
Dabei hielt er weiter nach seinem Intimfeind Ausschau. Als er beinahe mit einem
anderen Fahrer kollidierte, ermahnte er sich, an das Rennen zu denken.
Jean-Paul würde sich die Meisterschaft nicht entgehen lassen. Er würde schon
noch auftauchen.
Die Aschenbahn war
noch von den gestrigen Regenschauern feucht. Otto würde in den Kurven aufpassen
müssen, um nicht wegzurutschen. In einem weiten Bogen fuhr er zurück zu
Ferdinand und Moses. Dabei meinte er, beim Treten ein Knacken zu hören. Nervös
sprang er vom Sattel und sagte: »Das Tretkurbellager ist voller Sand. Ihr müsst
es reinigen!«
»Das kann nicht
sein«, maulte Moses. »Ich habe es gerade eben –«
»Ich verbitte mir
diesen Ton«, sagte Otto scharf. »Wenn ich eine Anweisung erteile, ist dieser
Folge zu leisten.«
»In zehn Minuten
fällt der Startschuss«, merkte Ferdinand vorsichtig an. »Wir werden es kaum
schaffen, es bis dahin –«
»Reinigen, sage
ich. Sofort! Ich will kein Risiko eingehen. Je länger wir diskutieren, desto
mehr Zeit verlieren wir. Fangt endlich an.«
Ferdinand öffnete
seufzend den Werkzeugkoffer und reichte Moses eine Stahlkanne. In dieser Saison
hatten sie Otto zu neun Rennen begleitet. Mittlerweile wussten sie, dass jeder
Appell an seine Vernunft so kurz vor dem Startschuss reine Zeitverschwendung
war. Hatte er sich etwas in den Kopf gesetzt,
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