Mord unter den Linden (German Edition)
sagte Anna. »Ich habe mich oft gefragt, wie es dir wohl
geht.«
»Hervorragend, das
siehst du doch«, sagte Otto und drehte sich um. Journalisten liefen neben ihm
her und stellten Fragen, aber er starrte nur auf die Aschenbahn. Über ein Jahr
lang hatte er für diesen Tag trainiert. Er hatte Diät gehalten, sich auf dem
Rover-Trainier-Apparat geschunden, er hatte im eiskalten Wannsee gebadet, um
sich abzuhärten, er hatte viele Entbehrungen auf sich genommen, um hier und
heute zu triumphieren. Jetzt hatte er tatsächlich gesiegt, sein großer Wunsch
hatte sich erfüllt. Eigentlich sollte er jubeln, singen und tanzen. Warum
fühlte er sich nur so leer?
Im Leichenschauhaus
Nachdem ihn die
Nachricht erreicht hatte, begab sich der Commissarius unverzüglich zum neuen
Leichenschauhaus. Es war hell und modern und in keiner Weise mit dem düsteren Leichenkeller
im Königlichen Anatomiegebäude zu vergleichen. Trotzdem rief der Geruch nach
karbolsäurehaltigen Reinigungsmitteln stets Assoziationen hervor, die schaurige
Erinnerungen weckten. Und obwohl es hier weder nach Verwesung noch nach
feuchtem Gemäuer roch, hielt sich der Commissarius ein parfümiertes Taschentuch
vor die Nase.
Der Obduktionssaal
befand sich im Erdgeschoss des Ostflügels. Im Sektionsraum hing eine Gaslampe
über einem steinernen Tisch, um den sich der Gerichtsarzt und zwei Assistenten geschart
hatten. Die Männer hatten die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich
leise, dann griff Dr. Gessken nach einer metallenen Schüssel und legte einige
entnommene Organe wieder zurück in den geöffneten Bauchraum. Während er grobes
schwarzes Garn in eine Nähnadel einfädelte, begaben sich seine Assistenten in
den Nebenraum, offenbar um eine Bahre zu holen.
»Guten Tag«, sagte
der Commissarius und blieb in sicherem Abstand von der Leiche stehen. »Sie
haben eine interessante Entdeckung gemacht?«
»Ah, Herr Funke«,
erwiderte der Gerichtsarzt. »Das ist richtig. Bitte gedulden Sie sich noch
einen Moment, bis ich hier fertig bin.«
»Hm«, machte der
Commissarius und versuchte, durch sein Taschentuch so flach wie möglich zu
atmen. Trotzdem bildete sich ein metallisch schmeckender Belag auf seiner
Zunge. Schnell griff er in seine Jacketttasche, steckte sich eine
Pfefferminzpastille in den Mund und sah sich um. Neben ihm stand ein Putzeimer,
der randvoll mit rötlichem Wasser gefüllt war. An der Wand waren lange weiße
Regale angebracht, auf denen eine umfangreiche anatomische Sammlung ausgestellt
war. Graue Gehirne, winzige Embryonen und einige Trinkerlebern schwebten in
einer trüben Konservierungsflüssigkeit.
»Gut, dass Sie es
so schnell einrichten konnten«, sagte Dr. Gessken und wischte seine Hände an
der Schürze ab. Offenbar hatte er sein grausiges Werk vollendet.
»Was haben Sie
denn nun herausgefunden, mein Lieber?«, fragte der Commissarius.
»Kommen Sie bitte
mit«, sagte der Gerichtsarzt, trat an einen zweiten steinernen Sektionstisch
und schlug ein weißes Laken zurück. »Das erste Kreuzigungsopfer war so stark
verkohlt, dass wir keine eingehende Untersuchung vornehmen konnten. Bei dieser
Frau hingegen ist ein großer Teil der linken Körperhälfte von den Verbrennungen
verschont geblieben, sodass wir – nachdem wir den Ruß abgewaschen hatten – eine
erstaunliche Entdeckung gemacht haben. Hier. Sehen Sie selbst.«
Die Neugierde
siegte nun über den Ekel, und so beugte sich der Commissarius hinab und
erkannte kleine Wunden auf der Hautoberfläche. An mehreren Stellen wirkte die
Haut fast wie perforiert. »Was hat das zu bedeuten?«
»Das haben wir uns
auch gefragt und die Verletzungen genauer untersucht. Allein am linken
Oberschenkel weist die Frau über vierzig Stichverletzungen auf. Die Wundränder
sind leicht nach innen gestülpt, die Kanäle kaum mehr als zwei Zentimeter tief
und angefüllt mit geronnenem Blut. Daraus können wir mit Sicherheit schließen,
dass die Frau gelebt hat, als der Täter ihr diese Verletzungen zugefügt hat.«
»So?«
»Es besteht kein
Zweifel daran, dass der Mörder ihr zuerst kleine Stichverletzungen zufügte und
sie später durch einen gezielten Stich ins Herz tötete.«
»Können Sie mir
sagen, wie viel Zeit zwischen den Stichverletzungen und dem Todesstoß vergangen
ist?«
»Ganz genau kann
ich das natürlich nicht, aber es könnten durchaus mehrere Stunden, wenn nicht
gar Tage gewesen sein.«
»Danke für diese
wertvollen Informationen, mein Lieber. Es war richtig, dass Sie mich
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