Mord unter den Linden (German Edition)
gleich
haben kommen lassen.«
Nachdem sich die
Männer verabschiedet hatten, begab sich der Commissarius auf dem schnellsten
Weg nach draußen, wo er erst einmal tief durchatmete. Die Entdeckung des
Gerichtsarztes war für ihn von größter Bedeutung. Nach dem Tod von Elvira
Krause hatte die Befragung weder der Angehörigen noch der Sektenmitglieder
nützliche Hinweise erbracht. Nach wie vor zerbrach er sich den Kopf, warum der
Täter sein Opfer öffentlich gekreuzigt und verbrannt hatte. Jetzt nahm die
Persönlichkeit des Mörders zum ersten Mal festere Konturen an. Vor der
Kreuzigung hatte er mit dem zweiten Opfer viel Zeit verbracht. Wieder und
wieder hatte er die Frau verletzt, war regelrecht mit einem Stichwerkzeug in
ihren Körper eingedrungen. Die Frau musste starke Schmerzen gehabt haben. Doch
was war der Grund für diese Vorgehensweise? Warum hatte der Mörder sie nicht
gleich getötet?
In seiner
langjährigen Berufspraxis hatte der Commissarius mehrere Folteropfer gesehen.
Meistens hatten sie ein bestimmtes Geheimnis preisgeben, gefügig gemacht oder
in irgendeiner Weise bestraft werden sollen. Ihre Verletzungen reichten von
ausgerissenen Fingernägeln über massive Quetschungen bis hin zu Knochenbrüchen.
Die Stichverletzungen des Kreuzigungsopfers waren von anderer Art, und der
Commissarius zog nun zum ersten Mal in Betracht, dass er es mit einem Sadisten
zu tun hatte, der seine Opfer aus purer Lust quälte.
Im Bürgerlichen Brauhaus in München
Die Radsportjünger
hatten sich zahlreich eingefunden, sodass der Saal aus allen Nähten platzte.
Die Leute löffelten Kräutlsuppe, aßen Leberkäse mit Semmeln, tranken Bier aus
Maßkrügen, diskutierten die Zukunft der pneumatischen Gummireifen und gaben
Prognosen für den morgigen Renntag ab.
Eigentlich war
Otto auch für die zehntausend Meter gemeldet gewesen, aber er hatte die Nennung
zurückgezogen. Die lange Strecke lag ihm nicht, dazu war er zu schwer und
muskulös. Dort behaupteten sich schlanke, drahtige Rennfahrer – Männer wie
Jean-Paul. Otto hatte ohnehin nur antreten wollen, wenn er über die tausend
Meter gepatzt hätte. Jetzt aber konnte er im Brauhaus seinen Triumph mit
reichlich bayerischem Bier begießen.
Otto trug die
große goldene Bundesmedaille an einem farbigen Bändchen um den Hals. Auf dem
Tisch lag die zusammengerollte Ehrenurkunde, die von einer Schleife in den Reichsfarben
gehalten wurde. Er war in bester Stimmung, erhob seinen Bierkrug und rief
fröhlich: »Prost!«
»Auf den
Meisterfahrer von Deutschland«, erwiderten Ferdinand und Moses im Chor und
lallten dabei leicht. Nach der dritten Maß waren sie schon recht betrunken.
Beide waren Alkohol nicht gewohnt. Schwungvoll setzten sie nun die Krüge an die
Lippen und tranken mit großen Schlucken. Moses lief das Bier aus den
Mundwinkeln und tropfte auf das Hemd.
Otto lachte.
Mittlerweile genoss er seinen Sieg in vollen Zügen. Zwar hatte er sich noch am
Nachmittag gefragt, ob es anständig von ihm gewesen war, Anna einfach stehen zu
lassen. Immerhin war sie nur höflich gewesen und hatte sich nach seinem
Befinden erkundigt. Aber dann hatte er gedacht, dass sie ihn damals hintergangen
hatte. Deshalb durfte sie nicht damit rechnen, dass er überschäumte vor Freude,
wenn er sie sah.
Jetzt erinnerte er
sich erneut an Anna und ihre kurze Begegnung, doch rasch schweiften seine
Gedanken ab und landeten im Café Bauer. Endlich würde er wieder die Zuger
Kirschtorte genießen können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Endlich war
die strenge Diät vorbei. Er beschloss, der Konditorei noch am Tag seiner
Rückkehr einen Besuch abzustatten. Wenn ihm Süßigkeiten wichtiger waren als
Jean-Paul und Anna, so ging ihm plötzlich auf, musste sein Herz frei sein. Ja,
auch in der dunkelsten Kammer seiner Seele wünschte er ihnen nicht mehr alles
Schlechte der Welt. Jean-Paul und Anna waren ein abgeschlossenes Kapitel seiner
Vergangenheit. Nicht mehr und nicht weniger.
Was mochte seine
Einstellung so verändert haben? Nachdenklich sah Otto auf das schäumende Bier
in seinem Maßkrug. Der Faktor Zeit spielte eine Rolle, sicher, aber vor allem
fühlte er sich nicht mehr allein. In den vergangenen Tagen hatte er oft an
Rieke denken müssen. An ihr Lächeln, an ihre Bemerkungen und Gesten. Zweifellos
stand sie in der gesellschaftlichen Hierarchie weit unter ihm. Seine Eltern
wären wohl schockiert, wenn sie von seiner Schwärmerei wüssten, aber seit der
skandalträchtigen Auflösung seiner
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