Mord unter den Linden (German Edition)
Nachteile
entstanden sind.«
»Da können Sie
ganz unbesorgt sein. Kriminaldirigent von Grabow und ich gehen uns nach
Möglichkeit aus dem Weg. Er will lediglich Erfolge von mir sehen, und die
liefere ich ihm in aller Regel auch. Übrigens hat er in den vergangenen Jahren
viel von seinem Ruf eingebüßt. Entre nous : In unserer
Behörde wird täglich damit gerechnet, dass er in den Ruhestand geschickt wird.«
»Wieso das?«
»Nun, er war schon
immer etwas zu exaltiert für seine Position, aber mittlerweile ist er auch noch
unzuverlässig. Er hat mehrmals eklatante Fehlentscheidungen getroffen, die die
Aufklärung von Morden behinderten und Zweifel an seiner Kompetenz aufkommen
ließen. Und auch im Kreuzigungsfall agiert er bisweilen mehr als unglücklich.«
»Warum?«
»Nun, erst gestern
bestellte er mich in sein Büro, um mir mitzuteilen, dass er keine weiteren
Ermittlungen bei der Apostolischen Gemeinde wünsche. Mir ist völlig
schleierhaft, wie er eine solche Anweisung erteilen kann, denn eines dürfte ja
wohl klar sein: Obwohl wir über das zweite Opfer noch fast nichts wissen und
auch nicht, ob sie Mitglied der Sekte war, gibt es nach wie vor einige Hinweise
in diese Richtung. Es ist mehr als fahrlässig, diese Spur außer Acht zu lassen
– insbesondere, weil wir keinen anderen Ansatzpunkt für die Ermittlungen
haben.«
»Was werden Sie
nun tun?«
»Das muss
natürlich unter uns bleiben, aber ich werde das tun, was ich für nötig erachte,
um die Morde aufzuklären. Wenn ich eine weitere Befragung der Sektenmitglieder
für sinnvoll halte, so werde ich sie trotzdem durchführen.«
Inzwischen hatten
sie das Jagdschloss Grunewald erreicht. Der helle Renaissancebau mit dem roten
Ziegeldach lag idyllisch an dem gleichnamigen See und war im Jahre 1542 für
Kurfürst Joachim II . Hector erbaut worden.
Jedes Jahr am 3.
November fand hier eine Parforcejagd auf Wildschweine statt. An der sogenannten
Hubertusjagd hatten schon wichtige Staatsgäste wie Zar Alexander II . aus dem Hause Romanow teilgenommen, und so
verwunderte es Otto nicht, dass auch heute im Grunewald gejagt wurde. Vor dem
Eingangsbereich hielt sich eine ungefähr dreißigköpfige Gesellschaft in
Jagdkleidung auf.
Als sie näher
kamen, sah Otto, dass Wilhelm II .
höchstpersönlich darunter war. Aufgeregt musterte er den Kaiser. Seine Majestät
war mittelgroß und von kräftiger Statur. Er hatte helle, lebhafte Augen, und
seine Schnurrbartspitzen waren sorgfältig aufgedreht. Wie üblich war er von
schmucken, groß gewachsenen Flügeladjutanten und Ordonanzen umgeben. Offenbar
machte gerade jemand einen Scherz, denn der Kaiser warf den Kopf in den Nacken,
sperrte laut lachend den Mund auf und stampfte mehrmals vor Vergnügen mit dem
Fuß auf den Boden.
Angesichts einer
so illustren Ansammlung von hochgestellten Persönlichkeiten wussten Otto und
der Commissarius nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten. Zögernd
kletterten sie aus dem Wagen, machten ein paar Schritte auf die Gesellschaft zu
und verbeugten sich in einem angemessenen Abstand. Ein schlanker Mann löste
sich aus der Gruppe, gesellte sich zu ihnen und stellte sich als Graf zu
Eulenburg und Hertefeld vor.
»Sicher können Sie
erahnen«, sagte er nach den üblichen Begrüßungsformeln mit einer melodiösen,
einnehmenden Stimme, »wie besorgt Seine Majestät über die neuesten
Entwicklungen sind. Zu deutlich sind Seiner Majestät die Attentate auf seinen
Großvater in Erinnerung. Solchen anarchistischen Umtrieben muss entschieden,
aber auch mit dem nötigen Fingerspitzengefühl entgegengetreten werden.«
»Ich verstehe, was
Euer Hochgeboren meinen«, erwiderte der Commissarius.
»Wenn ich richtig
informiert bin«, sagte der Graf, »helfen Sie der politischen Polizei nicht nur,
den heimtückischen Mord an Graf von Kentzin aufzuklären, sondern ermitteln auch
in den beiden Kreuzigungsfällen?«
»Das ist richtig«,
antwortete der Commissarius.
»Und Sie
unterstützen Herrn Funke mit Ihrem Fachwissen?«, fragte der Graf an Otto
gewandt.
»Soweit es in
meiner Macht steht«, erwiderte Otto.
»Ich wollte Sie
unbedingt wissen lassen, wie ungeheuer wichtig Ihre Aufgabe ist. Es ist kein
Geheimnis, dass für Seine Majestät jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit
einem Volks- und Vaterlandsfeind ist. Schon bei dem großen Bergarbeiterstreik
im vergangenen Frühjahr hatten Seine Majestät keinen Zweifel daran gelassen,
dass er bereit gewesen wäre, mit unnachsichtiger Strenge
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