Mord unter den Linden (German Edition)
hinten zwei
Männer an ihn herantraten. Sie trugen Arbeitermützen und -kittel sowie
auffällige leuchtend rote Halstücher, an die sich die Zeugen später mit
Sicherheit erinnern würden. Einer der Männer hob einen Revolver und zielte auf
den Hinterkopf des ehemaligen Innenministers. »Lang lebe der Sozialismus!«,
brüllte er.
Dann drückte er
ab.
Im Grunewald
Am frühen
Nachmittag erreichte Ottos Zug den Anhalter Bahnhof. Als er die imposante
Empfangshalle verließ, folgten ihm sein Bruder, Moses und ein Kofferträger.
Draußen betrachtete er das bunte Treiben auf dem Askanischen Platz und atmete
tief durch. Die Berliner Luft war zwar nicht für ihre Sauberkeit bekannt, aber
sie hatte eine unverkennbar städtische Note, die ihm das Gefühl gab, wieder zu
Hause zu sein.
Um die
sommerlichen Temperaturen auszukosten, entschloss er sich, die letzte
Reiseetappe in einer offenen Mietdroschke anzutreten. Er gab seinem Tross ein
Zeichen und wollte sich gerade auf den Weg zum Halteplatz der Kutschen machen,
als jemand rief: »Herr Doktor, da sind Sie ja. Gut, dass ich Sie noch erwische.
Auf dem Bahnsteig habe ich vergebens nach Ihnen Ausschau gehalten.«
»Commissarius
Funke«, erwiderte Otto. »Das ist ja eine Überraschung! Oder haben Sie mich aus
einem bestimmten Grund gesucht?«
»Mir widerstrebt
es wirklich, Sie nach einer so langen Fahrt zu behelligen, aber ich habe ein
Schreiben von Graf zu Eulenburg und Hertefeld erhalten, in dem er uns um eine
Unterredung bittet. Wir sollen zum Jagdschloss Grunewald kommen.«
»Graf zu Eulenburg
und Hertefeld?«, fragte Otto. Er kannte den Vertrauten des Kaisers nur vom
Hörensagen. Der Adelige galt als royaliste sans phrase ,
als Anhänger des Königtums ohne Wenn und Aber. Und man munkelte, dass er im
Frühjahr eine wichtige Rolle bei Bismarcks Rücktritt gespielt hatte. »Was will
er? Hat er einen Grund für die Unterredung angegeben?«
»Er hat nur
geschrieben, dass er uns wegen der neuerlichen Entwicklungen sprechen will. Es
handelt sich, so betont er, um eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung.«
»Dann bleibt uns
wohl keine Wahl.«
Das Jagdschloss
Grunewald lag glücklicherweise auf Ottos Heimweg, sodass er keinen großen Umweg
machen musste. Schnell einigte man sich, mit drei Kutschen Richtung Südwesten
aufzubrechen. Während Moses und Ferdinand mit dem Gepäck direkt zur Colonie
Alsen fahren sollten, würde Otto ihnen in der zweiten Droschke nach der
Unterredung folgen, der Commissarius hingegen würde mit dem dritten Wagen
zurück in die Stadt fahren.
Eilig begaben sie
sich zu den Droschken. Otto nahm neben Commissarius Funke auf der gepolsterten
Bank Platz und gab dem Kutscher das Zeichen zum Aufbruch. Der Wagen rumpelte
los, und die braven Klepper erreichten trotz der Hitze schnell ein rasches
Tempo. Der Fahrtwind erfrischte Otto, und er lüpfte seinen Hut, um den Schweiß
auf seiner Stirn trocknen zu lassen.
Derweil berichtete
Commissarius Funke ihm von den Neuigkeiten. Otto war äußerst betroffen, als er
von dem Attentat auf Graf von Kentzin hörte. Er hatte zwar eine andere
politische Auffassung als der ehemalige Innenminister, doch kannte er ihn
persönlich aus dem Haus seiner Eltern und war deswegen schockiert über seinen
Tod. Funke erzählte Otto auch von der zweiten Kreuzigung und den
Stichverletzungen am Leib der toten Frau, einer Prostituierten, die unter dem
Namen Invaliden-Lotte bekannt war.
»Was ist nur mit
den Menschen los?«, fragte Otto, der mit seinen Gedanken noch ganz bei Graf von
Kentzin war. »Glauben sie wirklich, dass sie durch Attentate etwas bewirken
können?«
»Ich habe einmal
ein Sprichwort gelesen«, erwiderte der Commissarius. »An den Urheber kann ich
mich nicht erinnern und auch nicht an den genauen Wortlaut. Es ging in etwa so:
Der Mensch ist für das Gute so empfänglich wie ein nasses Stück Holz für das
Feuer, aber für das Böse ist er bereit wie das trockene Stroh, das schon beim
leichtesten Wind Funken fängt.«
»Da ist etwas
Wahres dran«, sagte Otto. »Apropos gut: Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen
danken, dass Sie vor einigen Tagen Vitell benachrichtigt und so meine
Entlassung aus dem Gefängnis erwirkt haben.«
»Das ist nicht der
Rede wert.«
»Doch, doch!
Immerhin haben Sie wahrscheinlich sehr wohl gewusst, dass eine – nun, sagen wir
mal – Meinungsverschiedenheit zwischen mir und Ihrem unmittelbaren Vorgesetzten
der Grund für die Verhaftung war. Ich hoffe nur, dass Ihnen keine
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