Mord unter den Linden (German Edition)
Verlobung mit Anna scherte Otto sich nicht
mehr um Konventionen. Rieke faszinierte ihn, sie steckte voller Geheimnisse und
Überraschungen. Wenn er mit ihr zusammen war, fühlte er sich leicht. Und er
sehnte sich nach einem baldigen Wiedersehen.
Unter den Linden
Er hatte sich
berichten lassen, welche Auswirkungen das Bekanntwerden der zweiten Kreuzigung
auf die Berliner Arbeiterschaft hatte. Im Wedding waren drei junge
Fabrikarbeiter losgezogen und hatten einen Wachtmeister verprügelt. Dabei
beschimpften sie ihn, für »den ganzen Schlamassel« verantwortlich zu sein. Im
Prenzlauer Berg waren bei einer geheimen Zusammenkunft junge Heißsporne und
Sozialisten der alten Garde so heftig aneinandergeraten, dass es zu
Handgreiflichkeiten gekommen war. Auch sonst entwickelten sich die Dinge ganz
in seinem Sinne. Die politische Polizei war auf seine falsche Fährte
hereingefallen und hatte drei Leibwächter zum Schutz ihres Leiters abgestellt.
Aber natürlich konnten nicht alle führenden Köpfe so bewacht werden.
Schon vor Monaten
war seine Wahl auf Graf Heinrich von Kentzin gefallen, der im März 1881
preußischer Innenminister geworden war und dieses Amt mehrere Jahre lang mit
Feuereifer bekleidet hatte. Der Graf hatte damals gegen starke Widerstände erreicht,
dass die Mittel für die politische Polizei erhöht worden waren. Auch war das
Personal deutlich aufgestockt worden und hatte seitdem viel effektiver arbeiten
können. Unter von Kentzins Führung waren mehr Spitzelberichte als je zuvor bei
der Polizei eingegangen. In Zusammenarbeit mit Polizeipräsident von Madai hatte
er bis November 1881 dafür gesorgt, dass hundertfünfundfünfzig Sozialisten aus
der Stadt verwiesen worden waren. Trotz seines hohen Amtes war er sich nie zu
fein gewesen, unzählige Hausdurchsuchungen, Observierungen und Inhaftierungen
persönlich anzuordnen, ja er hatte sich sogar in der Öffentlichkeit damit
gebrüstet, der »erste Mann an der Front gegen die rote Brut« zu sein. Auch wenn
von Kentzin schon seit einiger Zeit nicht mehr im Amt war: In konservativen
Kreisen sprach man nach wie vor bewundernd von ihm als scharfem Hund, und die
Sozialisten hassten ihn leidenschaftlich.
Anders als der
Anschlag auf das Schöneberger Nationaldenkmal musste der nächste Schritt vor
möglichst vielen Zeugen erfolgen. Dass der ehemalige Politiker feste
Gewohnheiten hatte, war bei der Planung sehr hilfreich gewesen. So stattete er
jeden Montagmittag seiner jungen Geliebten, für die er eine eigene Wohnung
angemietet hatte, einen Besuch ab. Zu diesem Zweck verließ er sein Haus in der
Schadowstraße in der Regel kurz nach zwölf.
Er zückte seine
Taschenuhr und kontrollierte die Zeit. Als hätte Graf von Kentzin nur auf
dieses Zeichen gewartet, öffnete er in diesem Moment die Haustür seines
Stadtdomizils, winkte seiner Ehefrau zum Abschied und machte sich auf den Weg
zu seinem Stelldichein. Beschwingten Schrittes bog er von der Schadowstraße
nach links ab und erreichte die Prachtstraße Unter den Linden. Hier waren zu
dieser Uhrzeit viele Flaneure, Reiter und Kutschen unterwegs.
Eilig folgte er
dem Grafen und hatte große Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben. Obwohl er die
tägliche Kokaindosis erhöht hatte, verfehlten die Injektionen immer häufiger
die gewünschte Wirkung. Heute fühlte er sich krank und gebrechlich. Kalter
Schweiß drang ihm aus den Poren, und seine Beine waren so wackelig, als könnten
sie jederzeit einknicken. Ein Stück hinter der Kleinen Kirchgasse blieb er
stehen und stützte sich an einem Laternenpfahl ab. Von hier würde er einen
guten Blick auf das Geschehen haben.
Er hatte sich
entschieden, die Tat nicht selbst auszuführen. Zum einen fühlte er sich nicht
in der Lage, eine Flucht über Straßen und Hinterhöfe, durch Gassen und Keller
zu bewältigen. Zum anderen befürchtete er, dass jemand ihn erkennen könnte.
Auch bei der Auswahl seiner Komplizen hatte er vorsichtig sein müssen; er
wollte keinesfalls Männer aus Berlin mit der heiklen Aufgabe betrauen, die ihn
dann vielleicht verraten würden. Glücklicherweise war es nicht sonderlich
schwer gewesen, Leute von außerhalb anzuwerben. Im Hamburger Stadtteil Sankt
Pauli liefen zahllose hartgesottene Seeleute und Zuhälter herum, die für eine
entsprechende Summe noch ganz andere Dinge erledigt hätten.
Graf von Kentzin
hatte in der Zwischenzeit die Straßenseite gewechselt und einige Früchte
gekauft. Er wollte gerade in die Friedrichstraße abbiegen, als von
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