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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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Schmierentheater aufhören
und stattdessen die Realität akzeptieren. Er war ein alternder, einsamer und
glatzköpfiger Sonderling, dessen geschlechtliche Neigungen strafrechtlich verfolgt
wurden. Das klang zwar nicht besonders gut, aber so verhielten sich die Dinge
nun mal.
    Als Funke nach der
kleinen Schachtel griff, konnte er die Tränen nicht länger zurückhalten. Er
riss ein Schwefelhölzchen an und entzündete eine Kerze. Dann nahm er die
Perücke und hielt sie gegen die Flamme. Eine Strähne fing Feuer und verbrannte
langsam. Der Commissarius drehte die Perücke und ließ weitere Strähnen in
dunklem Rauch aufgehen.
    Als es an der Tür
klingelte, horchte der Commissarius überrascht auf. War das etwa der schwarze
Leibdiener von Dr. Sanftleben? Möglicherweise brachte er von seinem Dienstherrn
eine Nachricht. Möglicherweise ließ der Kriminalgelehrte ihm ausrichten, dass
ihm die gefühllose Behandlung auf dem Fest leidtäte und dass er von der Zeichnung
zutiefst bewegt sei. Sie hätte in ihm Empfindungen geweckt, von deren Existenz
er bisher noch nicht einmal etwas geahnt hätte. Erfüllt von einer irrationalen
Hoffnung eilte Funke in das Entree und fragte mit klopfendem Herzen durch die
geschlossene Tür: »Wer ist denn da?«
    »Hier ist
Wachtmeister Holle«, antwortete eine tiefe Männerstimme. »Sie müssen mich
unbedingt begleiten. Die Kollegen haben einen Fund gemacht, den Sie sich
ansehen sollten.«
    »Sie sind das«,
sagte der Commissarius enttäuscht.
    »Geht es Ihnen
nicht gut?«, fragte Holle. »Sie klingen krank.«
    »Ich kann nicht
mitkommen.«
    »Es ist wirklich
außerordentlich wichtig. Ich würde Sie sonst nicht behelligen.«
    »Dann gedulden Sie
sich einen Moment, ich mache mich fertig«, sagte Funke und lehnte sich an die
Wand neben der Eingangstür. Er war an einem Wendepunkt angelangt. Er musste
sich entscheiden, wie es weitergehen sollte.
    Dann gab er sich
einen Ruck, eilte in die Küche und nahm die Perücke. Er ging ins Badezimmer und
betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Seine Augenlider und die Nase waren rot
und verschwollen. Auf seinen Wangen waren kleine Äderchen geplatzt, und seine
sonst so gepflegten Lippen wirkten konturenlos. Die Perücke sah aus wie ein
zerrupftes Hühnchen. Aber wenigstens waren nur einige wenige Strähnen verkohlt.
Der Commissarius setzte sie auf und sagte zu seinem Spiegelbild: »Du bist
schön.«
    Wenn die Lebenden
ihn auch nicht verstanden, wenn sie ihn verspotteten und sich lustig machten,
war er doch ein erfolgreicher Beamter der Berliner Kriminalpolizei. Er half
dabei, die Straßen sicherer zu machen und Gewalt von den Bürgern abzuwenden. Er
übte eine wichtige Tätigkeit aus und war ein wertvolles Mitglied der
Gesellschaft. Und er wollte sich durch nichts und niemanden von seiner Arbeit
abhalten lassen. Gleich morgen würde er zu seinem Perückenmacher gehen und sich
einen neuen Haarschopf aussuchen, der noch prächtiger, glänzender und fülliger
sein sollte. Bei der Ausübung seines Berufs wollte er gepflegt und kultiviert
aussehen. Das war er den bemitleidenswerten Opfern und vor allem sich selbst
schuldig. Mit entschlossenen Schritten verließ Funke das Bad und kleidete sich
an.

Am Lehrter Güterbahnhof
    Der Commissarius
begleitete Wachtmeister Holle zum Lehrter Güterbahnhof, der am Spreeufer nahe
der Moltkebrücke lag. Mehrere mit Kreide beschriftete Waggons standen vor einer
riesigen Lagerhalle.
    Auf seine
ramponierte Perücke hatte der Commissarius einen Panamahut gesetzt. Er hatte
zwar eine Entscheidung getroffen, aber er fühlte sich noch nicht vollständig
wiederhergestellt. Deshalb wollte er den Polizisten keine Angriffsfläche
bieten.
    Die Sonne ging
gerade auf. Die Baumspitzen im Tiergarten auf der anderen Seite der Spree waren
in ein flirrend orangerotes Licht getaucht. Doch der Commissarius konnte diese
wunderbare Morgenstimmung nicht genießen. Schon von Weitem sah er das Bündel
auf dem Pflaster, das mit einer groben Plane zugedeckt war. In der Nähe eines
Prellbocks entdeckte er drei Gendarmen, die sich aufgeregt unterhielten.
    »Was genau ist passiert?«,
fragte Funke sie.
    Einer der
Schutzmänner trat zu ihm und sagte eindringlich: »Gut, dass Sie da sind,
Commissarius. Gut, dass –«
    »Beruhigen Sie
sich erst einmal, dann erzählen Sie in aller Ruhe eins nach dem anderen.«
    Der Mann atmete
mehrmals tief durch. »Also … also von der Moltkebrücke aus hab ich gesehen,
wie jemand etwas ins Wasser werfen wollte. Da hab ich

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