Mord unter den Linden (German Edition)
da
unten? … Bist du da unten?« Es war eine sanfte, laszive Stimme, die er nur allzu
gut kannte. Er bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut.
»Bitte lass mich
zufrieden«, sagte er und stellte mit Entsetzen fest, dass er wie ein Knabe
gesprochen hatte.
»Heute Abend sind
wir ganz allein«, sagte die Stimme sanft. »Freust du dich denn nicht? Wir
lassen uns viel Zeit. Das wird sehr schön.«
Er gab sich selbst
Ohrfeigen, um wieder zur Besinnung zu kommen. Die Stimme konnte nicht real
sein, sie existierte nur in seinem Kopf. Vermutlich hatte Dr. Saretzki recht,
vermutlich verlor er langsam den Verstand. Mit zitternden Fingern griff er nach
der Spritze und zog die Lösung mit dem Kolben auf. Er stieß sich die Nadel in
den Oberschenkel und summte vor sich hin: »Brüderlein fein, Brüderlein fein,
musst mir ja nicht böse sein …«
»Ich weiß doch«,
sagte die Stimme, »wie viel Spaß es dir beim letzten Mal gemacht hat. Und wenn
du wieder so brav bist, wird auch ganz bestimmt niemand etwas davon erfahren.
Ich könnte dich ganz langsam …«
Er sang lauter:
»… Scheint die Sonne noch so schön, einmal muss sie untergeh'n. Brüderlein
fein, Brüderlein fein, musst nicht traurig sein …« Er tauchte die Spitze
erneut in die Lösung, zog den Kolben hoch und stieß die Spritze in den anderen
Oberschenkel.
»Du bist doch mein
Sonnenschein … mein kleiner Strahlemann … warum bist du denn so …«
Nach und nach
verteilte sich das Kokain in seinem Blut. Die Stimme wurde leiser, aber sie
verstummte nicht ganz, sondern wisperte am Rand seines Bewusstseins weiter.
Plötzlich wusste er, dass sie ihn niemals in Ruhe lassen würde. Diese
Erkenntnis legte sich mit einer bleiernen Schwere über ihn, und er fürchtete,
dass sie ihn erdrücken würde. Verzweifelt sprang er auf und sah sich um. Er
musste sich spüren, er musste … Schon wollte er nach der Spritze greifen, um
sich einen weiteren Schuss zu setzen, aber eine dritte Dosis würde er nicht
verkraften. Deshalb massierte er die verkümmerte Vorstülpung, die einmal sein
Penis gewesen war. Er musste Lust spüren, einen Höhepunkt erleben, der
mächtiger war als die Erinnerung, der mächtiger war als alles andere, aber da
unten regte sich nichts. Verzweifelt griff er nach dem Messer und stolperte zu
der Stelle, wo die Frauen an der Mauer gehangen hatten. Mit den Füßen stand er
in ihrem geronnenen Blut und konnte ihre Angst noch spüren, ihr Gewimmer noch
hören. Er stieß zu und stellte sich vor, wie die Klinge in ihr Fleisch drang.
Wieder und wieder. Mit dem Unterleib rieb er sich an der Mauer, aber da war
keine Lust, da war nur die unendliche Schwere, die nun vollends von ihm Besitz
ergriff und ihn schließlich zu Boden riss.
In »Klein-Sanssouci«
Die letzten Gäste
hatten sich längst verabschiedet. Das Dienstpersonal hatte die Tische
abgeräumt, die Terrasse gefegt und war zu Bett gegangen. Otto saß auf dem
Bootsanleger, ließ die Beine über die Kante baumeln und nippte an einem Glas
Champagner.
»Der Treibsatz ist
die Seele der Rakete«, erklärte Ferdinand gerade. »Er besteht aus Salpeter,
Schwefel und Kohle und befördert den Corpus in die vorgesehene Höhe, wo ein
letzter noch brennender Rest eine Schnur entzündet, deren Glut sich durch eine
Zwischenwand zur Versetzung, also zu den Schwärmern, Leuchtkugeln und Fröschen,
vorarbeitet und so das Feuerwerk auslöst.«
»Entschuldigung«,
sagte Rieke gähnend und lächelte bemüht. »Und wo bekommt ihr den Salpeter her?«
Ferdinand strahlte
vor Stolz. »Den haben wir nach einem alten Pyrotechnikbuch selbst hergestellt.«
»Wir sind extra zu
den Bauern gefahren«, ergänzte Moses, »und haben gefragt, ob wir Mist aus den
Ställen haben können. Mensch, die haben vielleicht geguckt.«
»Salpeter aus
Mist?«, fragte Rieke und unterdrückte erneut ein Gähnen. »Wie geht denn das?«
»Ganz einfach«,
erwiderte Ferdinand. »Wenn du willst, kannst du mal zu mir ins Labor kommen,
dann zeig ich es dir. Du brauchst nur Mist, Lauge, einen Kessel, Alaun, ein
Feuer und Kellen.«
Als sein jüngerer
Bruder begann, die Salpeterproduktion in allen Einzelheiten zu beschreiben,
beschloss Otto, dass es nun Zeit wurde, ihn und Moses loszuwerden. Er lehnte
sich vor und sagte: »Ich glaube, Lina wollte euch noch ein Frühstück richten.
Ihr habt doch sicher Hunger?«
»Lina?«, fragte
Moses. »Ich habe selbst gesehen, wie sie ins Bett gegangen ist.«
Otto versuchte es
mit einem verschwörerischen Zwinkern,
Weitere Kostenlose Bücher