Mord unter den Linden (German Edition)
rübergeschrien, dass die
Spree keine Müllkippe wäre und dass der Kerl verschwinden solle. Das hat er
dann auch getan.«
»Wie sah der Mann
aus?«
»Er war groß. Und
kräftig. Ansonsten habe ich nicht viel erkennen können. Dazu war er zu weit
entfernt, und es war noch zu dunkel.«
»Und dann?«
»Irgendetwas kam
mir seltsam vor und ließ mir keine Ruhe. Ich war schon ein Stückchen
weitergegangen, aber dann entschied ich mich, noch einmal umzukehren. Außerdem
hatte der Kerl seinen Müll … ich meine natürlich nicht den Müll, sondern …
also, ich bin zurückgekommen, um nach dem Rechten zu sehen und hab …« Der
Gendarm stockte und schluckte mehrmals, als würde er eine aufkommende Übelkeit
niederringen.
»Was haben Sie?
Nun reden Sie schon!«
»Sehen Sie doch
selbst«, sagte der Beamte und deutete auf das Bündel.
Der Commissarius
gab Wachtmeister Holle ein Zeichen, und dieser schlug die Plane vorsichtig
zurück. Darunter lag ein nackter, weiblicher Leichnam. Die Tote, eine zierliche
Person, hatte langes rotblondes Haar, das wie ein Strahlenkranz ihr fahles
Gesicht einrahmte. Sie mochte zwanzig Jahre alt sein, vielleicht etwas jünger.
Oberkörper, Unterleib und Beine waren von Einstichen übersät. Die rotbraunen
Blutkrusten hoben sich deutlich von der schneeweißen Haut ab. Obwohl er kein
Gerichtsarzt war, stand für Funke eines fest: Die junge Frau wies die gleichen
Wunden auf wie das zweite Kreuzigungsopfer.
Im Verlies
Der Rausch war
längst verflogen. Mit hängenden Schultern saß er im Kerzenschein und starrte
ins Leere. Mittlerweile war ihm klar geworden, dass er eine Riesendummheit
begangen hatte. Eigentlich war alles nach Plan gelaufen: Sowohl die Polizei als
auch die Arbeiter glaubten, dass Kriminaldirigent von Grabow der brutale Mörder
war. Weil er ein hoher Repräsentant der Staatsmacht war, schürte das den Zorn
der Proletarier noch zusätzlich. Alles war also perfekt gewesen, aber dann
hatte er die Kontrolle über sich verloren. Was war nur in ihn gefahren? Warum
hatte er sich nicht zurückhalten können?
Und dann diese
Unachtsamkeit an der Spree. Während er hiergeblieben war, hatte sein Komplize
den Leichnam allein weggebracht. Dabei war er von einem Gendarm gesehen worden.
Glücklicherweise war der Beamte zu weit weg gewesen, um das Gesicht seines
Gehilfen zu erkennen. Auch die Kutsche hatte niemand gesehen, sodass sie
höchstwahrscheinlich ungeschoren davonkommen würden. Trotzdem ärgerte er sich,
dass er so leichtsinnig gewesen war und nicht mitgekommen war. Er wäre sicher
vorsichtiger gewesen und hätte dafür gesorgt, dass sein Komplize nicht gesehen
worden wäre.
Für diese
Anhäufung von Fehlern gab es nur eine vernünftige Erklärung. Er war nicht mehr
er selbst gewesen. In den vergangenen Tagen hatte er an nichts anderes mehr
denken können. Die flüchtigsten Reize hatten genügt, um ihn in einen Zustand
höchster Erregung zu versetzen. Er hatte das Ziel aus den Augen verloren und
sich vom Anblick der jungen Frau hinreißen lassen. Er hatte seine Freiheit, den
Plan, einfach alles aufs Spiel gesetzt. So etwas durfte nie wieder geschehen.
Wenigstens würde
die Polizei keinen Zusammenhang zwischen den Kreuzigungen und dem dritten Mord
sehen. Denn diese Frau war ja nicht gekreuzigt und verbrannt worden. Und auch
hinsichtlich des Fundortes gab es keine Übereinstimmungen. Er konnte sich also
einigermaßen sicher fühlen, aber einige Fragen nagten an ihm und ließen ihm
keine Ruhe: Verlor er wieder die Kontrolle? Fing alles von vorn an? Und wie
würde es dieses Mal enden?
Er stützte die
Ellenbogen auf den nackten Beinen ab und massierte seine Schläfen. Manchmal
glaubte er, dass er den Plan nur erdacht hatte, um seine Phantasien wieder
ausleben zu können. Möglicherweise war der Plan nichts weiter als ein Alibi,
das er sich selbst gab. Denn er gaukelte ihm vor, ständig Herr der Lage zu
sein, und bewahrte ihn davor, sich die blanke Mordlust einzugestehen. Dabei war
es ein überwältigendes Erlebnis, die Angst in ihren Augen zu sehen und die eigene
Macht zu spüren. Ja, vermutlich war längst nicht mehr das politische Ziel die
Antriebsfeder, sondern etwas anderes, das tief in ihm geschlafen hatte, das
durch das Kokain geweckt worden war und das nun seinen grenzenlosen Hunger
stillen musste.
Plötzlich hörte er
ein Wispern. Zuerst leise, dann schwoll es an. Schließlich verstand er einzelne
Worte, eine sich ständig wiederholende Frage: »Bist du da unten? … Bist du
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