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Mord unter den Linden (German Edition)

Mord unter den Linden (German Edition)

Titel: Mord unter den Linden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Pieper
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wissen, ob es Ihnen gefällt. Vielleicht sehen Sie es nicht
als Geburtstagsgeschenk an, sondern als Ausdruck meiner allgemeinen
Wertschätzung.«
    »Also gut«, sagte
Otto und nahm die Pergamentrolle entgegen. Er löste die nach Rosen duftende
Schleife und entrollte das Blatt. Es war ungefähr vierzig mal sechzig
Zentimeter groß. Erstaunt sah Otto eine sehr realistische Zeichnung.
Schönwetterwolken gewannen durch wenige Striche eine große Plastizität.
Schwalben segelten durch die Luft. Im Hintergrund befand sich eine Radrennbahn,
auf der winzige Fahrer ihre Runden drehten. Offenbar handelte es sich um die
Rennbahn an der Brückenallee. Das Erstaunlichste war aber die Person im
Vordergrund, denn am rechten Bildrand, etwa ein Drittel der gesamten Fläche
einnehmend, lehnte Otto an seiner Nürnberger Veloziped-Maschine. Sein Gesicht
sah männlich-entschlossen aus, die Hände griffen kraftvoll um die Lenkstange,
und verästelte Venenstränge zogen sich über seine Unterarme. Er trug ein
gestreiftes Trikot und eine enge schwarze Hose, unter der die
Oberschenkelmuskulatur und noch so manches andere sichtbar waren.
    »Sie haben mich
gezeichnet«, sagte Otto verwundert.
    »Gefällt es Ihnen,
mein Lieber?«, fragte der Commissarius. »Bitte seien Sie ehrlich!«
    Otto fehlten die
Worte. Von Gefallen oder Missfallen konnte nicht die Rede sein. Die Zeichnung
war technisch sehr gelungen, aber sie unterschied sich von gängigen Porträts,
weil Funke durch physische Details dem Bild etwas Anzügliches gegeben hatte.
Was hatte den Commissarius nur bewogen, eine solche Präzision an den Tag zu
legen? Warum stellte er ihn als Idealbild eines Mannes dar?
    Otto wusste nicht,
wie er auf das Geschenk reagieren sollte. Um den Commissarius nicht unnötig zu
kränken, entschloss er sich, diplomatisch vorzugehen. »Danke für diese sehr
kunstvolle Zeichnung. Fühlen Sie sich bitte wie zu Hause. Genießen Sie den
schönen Abend. Es gibt reichlich zu trinken und zu essen«, sagte er und begab
sich schleunigst zum nächsten Gast.
     
    Die Stunden
verstrichen, und rasch vergaß Otto die Zeichnung des Commissarius. Er
unterhielt sich prächtig mit seinen Gästen und wärmte mit Weggefährten früherer
Tage alte Anekdoten auf. Trotzdem musste er ständig an Rieke denken. Seit dem
Bootsausflug und seinem überstürzten Aufbruch hatte er nichts mehr von ihr
gehört. Würde sie tatsächlich seiner Einladung folgen?
    Otto seufzte und
sah sich um. Das Fest war ein voller Erfolg. Das vornehme Restaurant de
l'Europe sorgte für die kulinarischen Genüsse. Zum Speiseangebot zählten
russischer Kaviar, Suppe mit Spargelspitzen, Rheinlachs mit Grüner Soße,
Putenbraten mit Rosinen, Lammrücken mit Gemüse, Hummer mit Tatarensoße,
Schnepfen, Parfait von der Straßburger Gänseleber, gebratene Champignons,
Punschspeise mit Branntweinkirschen, Käse und Rote Grütze mit Vanillesoße. An
Weinen wurden der Sechsundachtziger Marcobrunner und ein Neunundsechziger
Château Lafitte ausgeschenkt, an Champagnern der Clicquot dry und der Moët et
Chandon Impérial Brut. Für die zünftigeren Gäste wurde das schwere Kulmbacher
Bier gezapft. Zur Unterhaltung traten fünf Artisten auf, die Saltos sprangen
und menschliche Pyramiden bauten. Ein Feuerschlucker spie zwei Meter lange
Flammen, ein Jongleur ließ bis zu sechs Bälle in der Luft kreisen und
balancierte dabei auf einem Bein oder hüpfte auf und ab. Alle Vorführungen
wurden mit stürmischem Applaus belohnt.
    Zufrieden lächelte
Otto, dann schlenderte er in Richtung Tanzboden und sah dem ausgelassenen
Treiben zu. Galopp, Walzer, Polka und Rheinländer zählten nicht zu den
vornehmen Tänzen und wurden wegen ihrer Volkstümlichkeit häufig verschmäht.
Doch trotzdem wurde ein ums andere Mal ein Gassenhauer verlangt, und selbst die
nobelsten Gäste hüpften über die Bretter, bis ihnen der Schweiß von der Nase
tropfte. Otto grinste und ging durch den von Fackeln und bengalischem Licht
illuminierten Garten zum Bootsanleger, um nach dem Rechten zu sehen. Eifrig
bereiteten Ferdinand und Moses hier den Höhepunkt des Festes vor, ein großes
Feuerwerk.
    Otto ging zurück
und zog dabei bestimmt schon zum zehnten Mal seine Taschenuhr hervor. Die
Zeiger strebten gegen Mitternacht. Jetzt müsste Rieke doch so langsam kommen.
Die Aufführung im Belle-Alliance-Theater war längst vorüber. Otto stellte sich
auf die Zehenspitzen und hielt nach seinem Dienstmädchen Lina Ausschau, die heute
für den Empfang der Gäste und

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