Mord unter den Linden (German Edition)
die Garderobe zuständig war. Er hatte ihr
aufgetragen, ihm Riekes Eintreffen sofort zu melden.
Doch statt Lina
entdeckte er zu seiner freudigen Überraschung Rieke selbst. Sie trat in diesem
Moment auf die Terrasse und ging bis zum Treppenabsatz, wo sie verharrte und
sich nach allen Seiten umschaute. Die anderen Gäste blickten ihr nach, steckten
die Köpfe zusammen und tuschelten.
In den vergangenen
Tagen hatte Otto sich diesen Moment häufig vorgestellt, aber mit einer solchen
Erscheinung hatte er nicht gerechnet. Rieke war von einer märchenhaften,
beinahe ätherischen Schönheit. Sie trug ein silberfarbenes Kleid. Das Oberteil
und die engen, netzartigen Ärmel waren mit kunstvollen Ornamenten verziert.
Entgegen der Mode trug sie das lange blonde Haar offen. Es legte sich mit einem
zarten Goldschimmer über ihre Schultern.
Als Rieke ihn
erblickte, raffte sie ihre Röcke und kam lächelnd auf ihn zu. »Ich hab mich so
beeilt«, sagte sie. »Ich wollte unbedingt pünktlich sein.«
Otto wollte gerade
zu einer Erwiderung ansetzen, als die Nacht explodierte. Raketen stiegen
heulend in die Höhe und wurden zu sprühendem Feuerregen, prunkenden Sternen und
zerberstenden Galaxien. Rote, blaue und gelbe Funken regneten herab, tauchten
in den Wannsee und verglommen. Immer neue Raketen versprühten Kaskaden farbiger
Feuerschlangen.
Rieke ergriff
seine Hände, drückte sie mehrmals und sah ihm tief in die Augen. »Herzlichen
Glückwunsch zum Geburtstag.«
Ihr liebevoller
Blick ließ Ottos Herz schneller schlagen. Sie stand so nah bei ihm, dass er
ihren Geruch einatmen konnte, der ihm seltsam vertraut vorkam. Zu gern hätte er
sie in die Arme geschlossen und geküsst. Zu gern hätte er ihr über das duftende
Haar gestrichen und die Welt ringsum vergessen, aber vor all den Gästen war das
schlecht möglich.
Als das Feuerwerk
vorüber war, widmete sich Otto den Gratulanten. Er schüttelte zahllose Hände,
bedankte sich und nahm Geschenke entgegen. In Gedanken war er die ganze Zeit
bei Rieke, die nur wenige Schritte entfernt stand und ihn lächelnd beobachtete.
Schließlich griff
er nach Riekes Hand und zog sie zum Tanzboden. Gerade spielte die Kapelle einen
Walzer. Versunken drehten sie sich auf den knarrenden Brettern. Einige Gäste
sahen ihnen lächelnd zu.
Plötzlich stand der
Commissarius neben ihnen und fragte streng: »Was sucht die Zeugin Dürr hier?«
»Wie bitte?«,
fragte Otto zurück.
»Ich wiederhole:
Was sucht die Zeugin Dürr hier?«
»Sie ist mein
Gast. Genauso wie Sie, Herr Funke.«
»Falls Sie es
nicht wissen: Es ist nicht üblich, mit Zeugen persönlichen Kontakt zu pflegen.
Besonders, wenn der Fall noch nicht abgeschlossen ist. Es hat schon oft
Überraschungen gegeben, die niemand für möglich gehalten hätte.« Funke
schüttelte missbilligend den Kopf und rauschte von dannen.
In der Wohnung des Commissarius
Nachdem der
Commissarius von Ottos Geburtstagsfest heimgekehrt war, fand er lange keinen
Schlaf. Schließlich stand er auf, ging in die Küche und betrachtete das Bild
seiner Großmutter. Dann trat er an die große Vitrine und verstaute das Porträt
in einer Schublade. »Heute kannst du mir nicht helfen«, sagte er traurig und
setzte sich an den Tisch.
Vor ihm
ausgebreitet lag wie ein toter schwarzer Vogel seine Perücke. Seine Mundwinkel
sackten noch weiter herab, als er daran dachte, dass keiner der Lebenden ein
gutes Wort für ihn hatte und dass sich niemand etwas aus ihm machte. Von seinen
Kollegen wurde er verspottet, bei Dr. Sanftleben löste er Befremdung aus. Er
sollte der Wahrheit endlich ins Auge sehen. In den kommenden Jahren würde er
nie wieder mit einem lebendigen Menschen diese Wohnung und sein Leben teilen.
Er stand vollkommen allein da, und daran würde sich nichts ändern.
Behutsam strich er
über die Echthaarperücke, die ihn ein Vermögen gekostet hatte. Die einzelnen Haare
waren dick und von einem tiefen Blauschwarz wie das Haar eines jungen, sehr
vitalen Italieners. Er hatte sich mit der Perücke immer so sicher gefühlt. Sie
hatte ihm zu der Haarpracht verholfen, die ihm von Natur aus nie vergönnt
gewesen war. Denn seine eigenen, ohnehin nur sehr dünnen Haare waren ihm schon
in jungen Jahren ausgegangen, und seine Kahlheit hatte ihn seitdem immer wieder
zum Objekt der allgemeinen Belustigung werden lassen.
Obwohl er sich
stets die größte Mühe gegeben hatte, Freunde oder Kameraden zu gewinnen, war
ihm das nie gelungen. Vielleicht sollte er mit dem
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