Mord zur Bescherung
Müllsack.
Lindsey hielt mit spitzen Fingern einen winzigen Slip in die Höhe. »Ich hoffe, die Dame hatte noch einen Ersatz dabei.«
»Oder sie ist hart im Nehmen«, fügte ihre Mutter hinzu. »Draußen sind zwei Grad minus.«
»Das sind robuste Typen. Die Leute von Mallory und Scrimshaw haben es sich richtig gutgehen lassen. Die haben bis kurz vor drei noch gezecht, waren wild entschlossen, ordentlich einen draufzumachen. Ihr Chef ist anscheinend nicht dafür bekannt, dass er es Weihnachten übertreibt – oder, wenn man ihnen Glauben schenken kann, zu irgendeiner anderen Jahreszeit. Und diesmal hat er sogar noch ein Essen am ersten Weihnachtstag gebucht.«
Honey band den prallvollen Müllsack zu. »Also, ich bin ganz begeistert von Mr. Clarence Scrimshaw. Der hat für die Finanzlage des Green River Hotel wahre Wunder gewirkt. Und einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Seine Leute haben sich, im Gegensatz zu einigen anderen, gestern Abend recht ordentlich benommen, und ich denke, am ersten Feiertag wird das auch nicht anders sein. Ab jetzt läuft alles wie am Schnürchen«, erklärte Honey mit fröhlicher Stimme und einem Hauch frischer Energie.
Schon bald folgte völlig überraschend das erste Anzeichen dafür, dass hier nur der Wunsch der Vater des Gedankens war.
Anna kam aus der Bar gewatschelt und stand höflich und ruhig da, bis jemand sie bemerkte. Das blonde Haar hatte sie sich mit einer rosa-weiß karierten Schleife zurückgebunden, und eine rosa Strickjacke spannte über ihrem Neun-Monats-Bauch.
»Mrs. Driver. Da ist ein totes Pferd in der Bar.«
Anna war eine echte Alleskönnerin und stammte aus Polen. Ihr Englisch hatte sich zwar sehr verbessert, aber abund zu verwechselte sie doch mal ein Wort. Honey ging davon aus, dass heute so ein Tag war, und lächelte ihr verständnisvoll zu. »Versuch’s noch mal.«
»Da ist ein Pferd«, beharrte Anna und runzelte die Stirn ein wenig. »Es ist ganz bestimmt ein Pferd. Es hat vier Beine, einen Schwanz, Knopfaugen und einen roten Zinken.«
»Zinken?«
»Nase.«
»Ah ja.«
Honey blieb dabei, dass, wie sie zunächst vermutet hatte, Annas Sprachkenntnisse ein wenig unvollkommen waren, und ließ sich Zeit, ehe sie sich auf den Weg machte, um die Lage zu sondieren. Außerdem war die Party gestern Abend doch recht wild gewesen. Sie musste sich um die Überreste des Vorabends kümmern, zum Beispiel unbedingt sofort das Blätterteigpastetchen zwischen den Werbebroschüren für eine Veranstaltung im Römischen Bad herauspulen.
Während sie zwischen dem Restaurant und der Bar hinund herflitzte, wurde sie am Empfang von einem Gast vom vergangenen Abend aufgehalten. Sie erkannte die Frau, sie hatte zu der Gruppe von Mallory und Scrimshaw gehört.
Sie sprach mit leiser Stimme und sah besorgt aus. »Es geht um unseren Chef, Mr. Scrimshaw. Ich mache mir Gedanken, weil ich ihn gestern Abend nicht gesehen habe. Ich nehme an, er ist sehr spät eingetroffen. Ist er schon vom Zimmer heruntergekommen?«
»Nein, tut mir leid.«
Die Frau war recht üppig gebaut. Sie würde wohl kaum jemals eine Mahlzeit ausfallen lassen und aß gern – nicht dass Honey ihr das übelgenommen hätte. Ganz im Gegenteil, das machte sie ihr sofort sympathisch.
Honey drückte Mitgefühl aus. »Oje.«
Wahrscheinlich hatte die Frau am Vorabend nicht so vielgetrunken wie die anderen. Die hatten sich ja redlich Mühe gegeben, den Keller leerzusaufen. Deswegen würden sich wohl nicht so viele heute Morgen zum Frühstück Speck, Würstchen und eine doppelte Portion Eier schmecken lassen. Die Dame, eine Mrs. Finchley, wenn sie sich recht erinnerte, würde möglicherweise ihr einziger Frühstücksgast sein.
In Mrs. Finchleys Augen lag eine leise Hoffnung, vielleicht das sehnliche Verlangen, Mr. Scrimshaw noch vor dem Frühstück zu erwischen. Aber es konnte natürlich auch etwas anderes sein.
Mrs. Finchley runzelte die Stirn und nestelte am Schulterriemen ihrer Handtasche herum. »Wo er wohl ist?«
»Vielleicht schläft er seinen Rausch aus?«, sagte Honey mit einem freundlichen Lächeln. Das sagte man doch gewöhnlich, wenn Leute ein Fest gefeiert haben.
Mrs. Finchley fand das gar nicht komisch.
»Mr. Scrimshaw trinkt nicht!«
Das war neu. Gestern Abend war es Honey so vorgekommen, als hätten die Leute von Scrimshaw und Mallory nicht getrunken, sondern gesoffen. Andererseits wusste sie nicht, wie dieser Mr. Scrimshaw aussah. Er hatte ja im Voraus telefonisch mit Kreditkarte
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