Mord zur Geisterstunde
an, hatte schon mütterlich mahnend den Zeigefinger in die Höhe gestreckt und wollte gerade loslegen.
Dazu sollte sie keine Gelegenheit bekommen. Der Mann bewegte kurz das Handgelenk, eine schnelle Drehung des Gasgriffs, und schon war das Motorrad weg, schnell wie Supermann.
Einen Augenblick lang stand Honey verdutzt da und überlegte. Irgendwie wirkten diese Gummistiefel trotzdem harmlos. Sie gehörten nicht gerade zur Standardbekleidung eines Kerls, der einen solchen schwarz-metallenen Hengst ritt. Gummistiefel, das passte doch eher zu einem anderen, richtigen Pferd, der Sorte mit vier Beinen, eigentlich noch besser zu jemandem, der hinter einem solchen Tier den Mist wegschaufelte.
Na ja, sei’s drum. Jetzt war sie müde und würde schlafen. Das Bett rief. Das hatte der Motorradfahrer zumindest geschafft. Und was Doherty anging …
Es war ein seltsamer Abend gewesen.
»Ich bin reif fürs Bett«, murmelte Honey vor sich hin, als sie die Tür zum Kutscherhäuschen aufsperrte. Drinnen war alles still und vom silbernen Mondlicht erhellt, das durch das runde Fenster hoch oben im Giebel der offenen Balkendecke strömte.
Sie schauderte leicht. Sie nieste. Verdammter Regen! Verflixt, wenn sie jetzt eine Erkältung oder Grippe kriegte! Dagegen hatte Honey ein lang erprobtes Rezept. Sie holte sich ein Tütchen Aspirin mit Vitamin C aus dem Badezimmer und suchte alles zusammen, was sie sonst noch brauchte: Kognak und eine Dose Cola. Das Zeug schmeckte gut und ging runter wie Öl. Als sie das Glas wieder abstellte, fiel das noch ungeöffnete Päckchen Anti-Grippe-Pulver herunter. Mist!, dachte sie, klaubte es vom Boden und riss es auf. Dann muss ich eben noch einen trinken.
Der Kerl mit dem Motorrad hatte sie nervös gemacht. Wer war er? Warum stellte er ihr nach?
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|33| 6
Honey war erst ein paar Minuten zu Hause, als ein junger Mann namens Simon Taylor vor dem Haus aus der Regency-Zeit 1 vorfuhr, in dem er wohnte. Es lag in einer Häuserzeile und war schon vor langer Zeit in Wohnungen aufgeteilt worden: fünf Etagen mit je zwei Wohnungen. Er parkte sein Motorrad in einer der für Zweiräder reservierten Parkbuchten neben einem dunkelroten Motorroller. In der Wohnung, die er sich mit seiner Mutter teilte, brannte im Wohnzimmer noch Licht. Simon hoffte, dass sie nur vergessen hatte, es auszuschalten, und bereits zu Bett gegangen war. Das war allerdings unwahrscheinlich. Seine Mutter blieb immer auf, bis er wieder heimkam. Das machte sie schon seit jeher so.
Die Haustür war breit und hatte sich im Rahmen verzogen. Als er sie aufdrückte, schrammte sie über die schwarzweißen Bodenkacheln. Der Eingangsflur war alles andere als einladend. Die Wände und Wohnungstüren im Inneren waren in verblasstem Burgunderrot gestrichen. Die Farbe hatte der Hausbesitzer vor einigen Jahren kübelweise im Sonderangebot erstanden. Ein Mieter im Erdgeschoss hatte versucht, die düstere Stimmung etwas aufzuhellen, indem er am Eingang zu seiner Einzimmerwohnung einige rosafarbene und goldene Linien um den Türsturz gemalt hatte. Als Kunstwerk konnte man das nicht gerade bezeichnen, und die Atmosphäre allgemeiner Vernachlässigung wurde dadurch kaum gemildert. Auch der Luftverbesserer, den jemand in eine Steckdose gestöpselt hatte, kämpfte vergeblich gegen den moderigen Geruch der Farne, die draußen auf der Brüstung vor dem dritten Stock wucherten, und des Schimmels, der vom Keller herauf kroch.
|34| Simon hatte keine Lust, Fragen zu beantworten, warum er wieder so spät noch unterwegs gewesen war. Ganz leise schloss er die schwere Haustür hinter sich. Der Bodenbelag war rissig und braun; vielleicht würde er glänzen, brächte jemand die Energie auf, ihn mit einem Kanister Politur und einem Lappen zu bearbeiten. Das hatte aber nie jemand versucht. Kurz Fegen und feucht Wischen, mehr war nicht drin. Simon zog die Schuhe aus, ehe er die Treppe zu der Wohnung hinaufstieg, in der seine Mutter auf ihn wartete. Mit den Schuhsohlen wäre er an dem vor Schmutz klebenden Treppenläufer festgepappt und hätte mit jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch verursacht. Auf Wollsocken dagegen konnte er beinahe lautlos die Stufen hinaufschleichen.
Als er die Wohnung erreicht hatte, wusste er mit Sicherheit, dass seine Mutter noch nicht zu Bett gegangen war. Der Lärm von Polizeisirenen aus dem Mitternachtskrimi zeigte an, dass sie vor dem Fernseher saß. Sobald er leise den Schlüssel im Schloss gedreht und die Tür geöffnet hatte,
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