Mord
meldete die Mutter ihn dauerhaft vom Sportunterricht ab in der Überzeugung, er habe einen Herzfehler davongetragen und dürfe nicht belastet werden. Das war verheerend, das war ihm nun auferlegt, obwohl er sich eigentlich gern bewegte, gern Rad fuhr, es war aber halt nicht zu ändern. Erst als Student lernte er schwimmen. Wenn die anderen in die Sportstunde gingen, musste er in der Klasse bleiben und sich sinnvoll beschäftigen.
Er ließ abschreiben und verpetzte keinen, insofern hatte er doch einen ganz guten Stand in der Klasse. Natürlich geriet er nie in Gefahr sitzenzubleiben, und natürlich trieben die anderen ihre Scherze mit seinem Namen «Gerwin». Am Wohnort durfte er zu den Jungschützen, wo er den Umgang mit dem Luftgewehr lernte und auch an Wettkämpfen teilnahm.
Auf dem Gymnasium waren nur Jungen, Mädchen gingen auf die Mädchenschule, einen geheimnisumwobenen, fast extraterrestrischen Ort. Einige Jahre fuhr er mit der Mutter zum Urlaub nach Sylt, wo er am Strand die Mädchen beobachtete – Ungezwungenheit, Naturalismus war die Theorie, für ihn war es unglaubliche Anschauung, völlig hoffnungsloses Begehren. Mit 17 fand er dort am Strand eine Freundin, die genauso schüchtern war wie er. Sie spielten viel im Sand, liefen miteinander herum, aber anfassen taten sie sich nicht.
Als er 18 war, erkundigte er sich bei seiner Mutter, wie man Genaueres zum Thema Sexualität erfahren könne, und sie brachte ihm eine Broschüre aus der Stadtbücherei mit. Nun wurde geordnet, was er vorher geahnt, aber nicht sicher gewusst hatte. So ließ denn auch die Panik nach, die ihn mit 12 Jahren das erste Mal überkommen hatte. Jahrelang hatte er geglaubt, krank zu sein, weil durch das Reiben, das ihm angenehm war und das er trotz aller Ängste nicht lassen konnte, dieses Weiße aus seinem Glied rauskam, das er für eine Art von Eiter hielt. Mit Mädchen hatte das allerdings noch wenig zu tun, Mädchen müsste man ja irgendwie näher kennenlernen. Andere schafften es, sich zu verabreden, aber Gerwin hatte nicht die leiseste Idee, wie das gehen könnte. Er überlegte, ein Fahrrad zu konstruieren, das auf Knopfdruck genau vor einem begehrten Mädchen zusammenbrach, um so mit ihr in Kontakt zu kommen.
Dann kam das Abitur, und Gerwin ging anschließend fort zum Ingenieurstudium. Ach nein, die Mutter hat ihn nicht zu halten versucht, sie hat ihm einen gebrauchten Fiat 500 geschenkt. Nicht, damit er öfters heimfuhr von Braunschweig, sondern weil er etwas außerhalb wohnte und durch so einen Hohlweg musste. Er besuchte sie ohnehin von sich aus gern. Er ließ sich Zeit beim Studium, wechselte nach fünf Semestern den Studienort, wohnte jetzt außerhalb von Darmstadt direkt im Odenwald in einer Waldschänke, einer Ausflugsgaststätte, wo er einen Kohleofen hatte und sich sein Brennholz aus dem Wald holte. Mit einem Freund machte er lange Wanderungen und berichtete der erfreuten Mutter, dass er mit der Studentenermäßigung ganz oft ins Theater ging. In den ersten zwei, drei Jahren habe er kein Stück versäumt.
Nach 21 Semestern, da war er schon verheiratet und Vater, beendete er das Studium mit Diplom und der Note «gut». Seine letzte Studentenbude war ein großes Zimmer mit Toilette und Bad auf dem Flur. Die Vermieterin wohnte im Erdgeschoss und hatte das Gefühl, dass sie sich etwas um diesen sonderlichen, mageren Bastler kümmern musste. Ein schlechter Esser, der sich abkapselte und anscheinend nur von Rohkost und selbstgepressten Fruchtsäften lebte, weil er nur das für gesund hielt. Gerwin klagte häufig über Beschwerden, meinte, er habe wohl ein Hüftleiden und müsse etwas tun für seine Gesundheit. Seiner Mutter hatte die Vermieterin daher versprochen, darauf zu achten, dass er mehr aß. Sie lud ihn vereinzelt zum Essen in ihre Küche, ermahnte ihn immer wieder und beriet ihn auch in allen anderen Lebensfragen.
In der zweiten Hälfte des Studiums war es so weit, Gerwin hatte seinen ersten Geschlechtsverkehr, woraus sich aber keine Liebesbeziehung ergab. Hannelore war Sekretärin und wohnte am anderen Ende der Stadt. Das war ihm, wie seine Mutter glaubte, auf die Dauer wohl zu umständlich. Vor allem aber deutete sich an, dass sie ihn fest binden wollte, und das wollte er nun nicht, immerhin war sie fünf Jahre älter als er, schon 30 . Wie in der Schulzeit war er nochmals in die Tanzschule gegangen, aber damit war der Bann immer noch nicht gebrochen. Schließlich hatte er auf eine Annonce geantwortet
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