Mord
sollte auch seinem Erzeuger gefallen.
Gerwin kannte den Mann, denn er kam jedes Jahr einmal zu Gast, abends nach einem Musikabend im Ort. Dann übernachtete er auch bei der Mutter; morgens fuhr er wieder fort. Aber erst als er 18 war, erzählte die Mutter Gerwin, dass dies sein Vater sei. Ein rechtes Bild von ihm hatte er eigentlich nicht. Er sei ihm danach noch mal begegnet. Für ihn sei das eigentlich nie ein Vater gewesen, sondern ein Bekannter. Er habe auch keine von dessen Schallplatten, müsse er zu seiner Schande gestehen, bis auf eine Langspielplatte, die er mal zu Weihnachten von ihm geschenkt bekommen habe, aber eigentlich interessiere ihn diese Musik nicht, er habe eine Leidenschaft für klassische Musik.
Das Kind, das ihrer Gesundheit doch nicht so förderlich gewesen war, gab Lotte ihrer Mutter zur Pflege und fuhr wieder zum Studium an der Akademie. Den Großeltern machten die Irrungen und Wirrungen ihrer Tochter einige Sorgen, aber sie versorgten liebevoll die Enkel Thomas und Gerwin. Auch Lotte, wenn sie in den Semesterferien daheim war, kümmerte sich interessiert um den Spross ihrer romantisch angereicherten Zuchtwahl.
Wenige Monate nach Gerwins Geburt hatte der Krieg begonnen. Im Ort wusste jeder, dass sie ja die deutsche Lotte Stettner war, Moss klang auch nicht besonders britisch, sodass man ihr keine Schwierigkeiten machte. Sie durfte auch an der Schule im Kunstunterricht aushelfen; ihr Vater war Oberlehrer. Genauso innig wie sie an ihm hing Gerwin an seiner Mutter; noch in Haft schrieb er ihr zweimal wöchentlich. Sie hatte Freude an dem braven, folgsamen Sohn.
Letztlich kamen sie heil und ziemlich unbeschadet durch den Krieg. 1944 waren sie aus Hinterpommern in den Westen geflüchtet. Sie landeten in Westfalen, wo Gerwin bald nach Kriegsende auf die Volksschule ging. Da die Mutter die beiden Kinder noch nicht allein mit ihrer Malerei durchbringen konnte, war sie als Verkäuferin für Angora-Unterwäsche unterwegs und als Lokalberichterstatterin für die Zeitung. Später, als sie wieder als Kunsterzieherin arbeiten konnte und häufiger Bilder verkaufte, litten sie keinen Mangel mehr, und sonntags und ein- bis zweimal auch unter der Woche kam Fleisch auf den Tisch.
Gerwin allerdings blieb sein Leben lang mager, schon als Kind war er groß und dünn. Er wäre auch gerne in den freien Künsten so begabt und einfallsreich gewesen wie seine Mutter, um ihr eine Freude zu machen. Aber er war eher ein introvertierter Bastler als ein ausdrucksfreudiger Künstler, verschlossen und etwas lahm. Wenn man ihn auf dem Schulhof suchte, stand er allein. Die Mutter sah es mit Kummer; andere Jungen waren laut, lebhaft und mitten im Getümmel, Gerwin guckte zu und kaute lustlos an seinem gesunden Vollkornbrot.
Beim Wandertag der vierten Klasse in die Baumberge war Gerwins Mutter plötzlich mit im Bus und lief neben ihm her bis zum Waldspielplatz, weil er zwei Wochen vorher doch noch krank gewesen war. Als sie gerade losgegangen waren, hielt sie ihn mit einem Ruck fest, schloss den Reißverschluss seines grauen Anoraks, damit er sich nicht erkältete, und zog ihm die Wollstrümpfe hoch. Die anderen Jungen nannten ihn Muttersöhnchen, die Mädchen, die vor ihm herliefen, drehten die Köpfe um und kicherten. Eine von ihnen war Lörchen Köhler, die er liebte seit dem ersten Schultag, so lebendig und froh und schön, wie sie war. Lörchen drehte lachend ihren Lockenkopf zu ihm nach hinten, sie lachte ihn aus, weil seine Mutter ihn immer an die Hand nehmen wollte. Er wäre am liebsten seitwärts in den Wald gelaufen, aber es war kein Entkommen.
Der Bruder wohnte da schon nicht mehr bei ihnen, nach der mittleren Reife war er an die Fachhochschule gegangen, was kein großer Verlust war, denn der hatte sich als Chef aufgespielt und ihn bisweilen geohrfeigt. Zu Hause war er mit der Mutter allein. Zu Hause ging es auch besser, als wenn andere dabei waren.
Nach der Volksschule bestand Gerwin die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium. Dahin fuhr er mit dem Bus, als einziger Fahrschüler jedoch auf dieser Route hatte er weder in der Schule noch im Ort richtige Freunde. Er besaß keinen großen Ehrgeiz, war nicht besonders fleißig, hatte aber stets gute Noten in Mathe, Physik und im Zeichnen, in den Sprachen weniger. Bei einem IQ von 130 , der später im Strafprozess festgestellt wurde, hat man Reserven. In Sport aber galt er als Niete.
Nach einer monatelangen Nierenerkrankung, durch die er fast die ganze Quarta versäumte,
Weitere Kostenlose Bücher