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Mord

Mord

Titel: Mord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Ludwig Kröber
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worden, wo man ihn auf den Zahnarztstuhl setzte. Ein Arzt kam und drückte ihm die riesig wirkende Kelle mit der kalten, feuchten Modelliermasse in den Mund und hinter die Lippen, hielt sie eine Weile gegen den Oberkiefer gepresst, bis die Masse mit einem leichten Schmatzen von seinen Zähnen abgezogen wurde. Das Gleiche wiederholte man an seinem Unterkiefer, ab sofort gab es eine dreidimensionale Dokumentation seines Gebisses – der Beweis seiner Unschuld in Gips, der Weg in die Freiheit tat sich auf.
    Aber nichts dergleichen geschah. Es wurde gegen ihn Anklage erhoben wegen Mordes. Die Anklage wurde zugelassen, die Hauptverhandlung angesetzt und ein zahnmedizinischer Sachverständiger geladen. Der Mordprozess begann, die Anklage wurde verlesen. Moss ließ erklären, dass er unschuldig sei, aber sich nicht zur Sache äußern wolle. Die Kriminalbeamten berichteten, schilderten das Spurenbild: kein gewaltsames Eindringen von außen, keine Spuren einer weiteren Person, die Frau vermutlich im Schlaf getötet, also auch nicht durch einen Eindringling geweckt. Die schwer erklärliche Einschusshöhe im Flur, die nicht zu dem passte, was Moss während der Vernehmung geschildert hatte.
    Dann kam der zahnmedizinische Sachverständige. Es fing gleich schlecht an, sagte Moss später: Er verwechselte Ober- und Unterkiefer. Was er als Oberkiefer gedacht hatte, wurde vom Gutachter als Unterkiefer angesehen. Und dann kam das mit der Zahnlücke plötzlich einigermaßen hin. Moss merkte: Gerade
wegen
der Zahnlücke hatte der Gutachter seine Zuordnung so getroffen. Aber trotzdem stimmten der Abdruck auf der Brust und sein Gebissabdruck nicht überein. Der Vorsitzende Richter ließ den Sachverständigen zu sich nach vorne kommen, die Verfahrensbeteiligten sahen alle auf eine Kopie der beiden Abdrücke, die vor ihm auf dem Richtertisch lagen. Auch wenn die Abdrücke sich nicht richtig ähnlich sähen, sagte der Sachverständige, sei trotzdem sehr wahrscheinlich, dass sie vom gleichen Gebiss herrührten. Denn man müsse bedenken, bei der Tat habe der Täter ja nicht wie beim Probeabdruck in eine plane, ebene Masse gebissen, sondern in eine runde Brust, wie zum Beispiel beim Biss in einen Apfel. In Vorbereitung seines Gutachtens hätten sie das ausprobiert an einem Luftballon, und da sei die Ähnlichkeit schon sehr viel größer. Der Sachverständige nahm an, dass Herr Moss damals vielleicht zwei etwas wacklige Schneidezähne gehabt hatte, die im schrägen Aufbiss auf die widerständige runde Brust zur Seite gewichen und sozusagen an den Platz gerutscht seien, an dem sie auf dem Spurenfoto zu erkennen waren. Auf den Einwand des Verteidigers, Herr Moss habe aber keine wackligen Schneidezähne, wurde versichert, die könnten sich wieder gefestigt haben.
    Zwei Jahre und zwei Monate nach dem Tod seiner Frau wurde Gerwin Moss wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Urteil, das in der Revision umstandslos bestätigt wurde, war 123  Seiten lang und erörterte sorgsam alle Indizien, nicht zuletzt den Zahnstatus.
     
    Der schmale, lange Moss, der eine ungewöhnliche Erscheinung war unter den breitschultrigen, tätowierten, langhaarigen Insassen, war ein vorbildlicher Strafgefangener, der bis zum Schluss kein einziges Disziplinarverfahren hatte und Jahr für Jahr beteuerte, dass er unschuldig sei. Irgendwie kam er mit den anderen aus, erzählte auf Fragen, durch ein Unglück sei seine Frau zu Tode gekommen, und er sei deswegen verurteilt worden. Bereits früh organisierte er einen Rechenkurs für mathematisch schlecht ausgebildete Mitgefangene. Vier Jahre nach dem Urteil gründete er in der Anstalt eine Kammermusikgruppe. Eine Kammermusikgruppe in einem Gefängnis für Langzeithäftlinge ist etwa so erwartbar wie eine Punkband im Vatikan. Zwölf Jahre lang hielt die Mutter engen Kontakt zu Moss, kam auch immer wieder zu Besuch, bis sie mit 75  Jahren starb. Moss stellte im Laufe der Jahre drei Wiederaufnahmeanträge, die immer kompliziertere Schilderungen dessen enthielten, was in jener Nacht passiert sei; keiner wurde angenommen.
    Schließlich beantragte Moss’ Anwalt, ihn als britischen Staatsbürger nach sieben Haftjahren auszuweisen, da Deutschland kein Interesse an seiner weiteren Beherbergung haben könne. Moss, der nie in seinem Leben in England war und auf dem Gymnasium Latein und Französisch gelernt hatte, begann Englisch zu lernen. Der Antrag wurde abgelehnt. Gegen Ende der Haftzeit, als er schon gelockert war und als

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