Mord
auf seine glatte Stirn geschrieben. Und das Gericht müsste ihn für psychisch gestört erklären.
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts über die Sicherungsverwahrung habe ich Siegfried erneut besucht; er wusste wie alle in Haus 5 recht gut Bescheid. Ich war da, um zu fragen, ob ich seine Geschichte in einem Buch erzählen dürfe; sie ist so prägnant, dass man die Person, um die es geht, nicht hätte unkenntlich machen können. Er hat zugestimmt. Zugleich bekundete er seine Empörung über die Pläne, die die Anstalt mit ihm habe: Wenn die zehn Jahre um seien, solle er in «Therapieunterbringung», das sei ein neues Gesetz. Geschlossen und gesichert natürlich, und das werde alle anderthalb Jahre überprüft. Siegfried sagte nichts Zitierfähiges, aber auch, dass man nun nach 30 Jahren Knast ankomme und ihn therapieren wolle. Wer so etwas ernsthaft vorschlage, habe wohl eine psychische Störung.
Er hatte es sich anders ausgemalt. Wenn es ihm ginge wie denen, die jetzt in Berlin trotz zweifelhafter Prognose nach zehn Jahren aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurden, dann würde man ihn umhegen und umpflegen nach der Entlassung, betreutes Wohnen und therapeutische Ambulanz und tagesstrukturierende Tätigkeit und Beratung selbst in Liebesdingen, zum Umgang mit kurdischen Frauen und drogensüchtigen Tinas. Das wäre doch ein Ziel, aufs innigste zu wünschen: ein beschauliches, glückliches Leben mit einer sanft, aber nachdrücklich leitenden Brünnhilde, und wie er dann, Schwerter zu Pflugscharen, im Schrebergarten die Reihen für Rettich und Radieschen zieht mit einem kleinen Feuchtbiotop und Vogeltränke. Irgendeinen Zauber bräuchte es noch, einen Flammenring, um dieses Idyll, um den Trinkteufel draußen zu halten.
Mutter eines Mörders
Am Nordrand des Sauerlandes, aus dem der zweite Präsident der noch jungen Bundesrepublik stammte, öffnet sich Westfalen in die Weite und die kohlehaltige Tiefe, und die Schlote rauchten wieder. An einem warmen Julitag des Jahres 1962 war Magdalene Fürstner auf dem Heimweg von der Arbeit. Gegenwärtig war sie zwar nur noch Putzfrau, aber sie hatte bessere Zeiten gesehen, und sie hielt auf ein gepflegtes Äußeres. Nach der Arbeit hatte sie wieder die Nylonstrümpfe angezogen, ihr hellblaues Kostüm aus dem Metallspind geholt und vor dem Spiegel ihre Locken geordnet; die blondierten Haare waren maßvoll toupiert, sozusagen pudelig, und schwangen an den Seiten unter das Kinn. Was sie im Spiegel sah, war gepflegt, aber nicht dunkel wie Jackie Kennedy, die nun im Weißen Haus regierte, oder gar die schwarze Agentin Olga Tschechowa, gegen die sie einst gekämpft hatte. Sie ähnelte, trotz ihrer 53 Jahre, mit etwas Phantasie ihrem Idol Doris Day, dieser patenten und fröhlichen blauäugigen Frau. Patent war Magdalene, fröhlich eher selten; ihre Kolleginnen fanden sie steif, ein wenig arrogant, als hielte sie sich für etwas Besseres.
Natürlich hielt sich Magdalene für etwas Besseres – eigentlich war sie Kauffrau, hatte ihrem Mann das Klempnergeschäft geführt. Aber dann hatte er sich mit einer anderen Frau eingelassen und ihr Kinder gemacht, und sie war allein. Allein mit ihrem Sohn, Hinrich, aber der war irgendwann aus dem Haus und, nun ja, das mussten die Kolleginnen nicht wissen, im Gefängnis. Sie war all die Jahre nicht ganz ohne Mann geblieben, die letzten drei Jahre hatte ihr der Stallknecht Sixtus Holländer im Bett und am Frühstückstisch Gesellschaft geleistet. Aber dann war Hinrich Ende März aus dem Gefängnis entlassen worden, war zu ihr gezogen und hatte Holländer vertrieben, hatte kein gutes Haar an ihm gelassen und ihn auch einmal verdroschen. Der Melker war kein Hüne, passte mal gerade so unter die Kühe, aber er hatte weiche und gewandte Hände. Er packte seine Sachen und machte sich davon, mit einem scheuen und bedauernden Blick auf Lene.
Von der Dortmunder Innenstadt fuhr Magdalene zwanzig Minuten mit dem Bus, in dem die Luft stand, aber sie schwitzte kaum. In der Kanalsiedlung stieg sie aus und trippelte heimwärts. Es ging auf sechs Uhr zu, sie lief im Schatten der Häuser. Sie würde gleich das Abendessen vorbereiten, Hinrich aß gern, er war ja noch jung, Ende nächsten Monats würde er 23 werden. Vielleicht war er ja zu Hause, Arbeit hatte er wohl noch nicht. Oder er trieb sich rum. Da wusste sie auch nicht, was sie denken sollte: War es ihr lieber, wenn er mit Gleichaltrigen seine Zeit verbrachte, mit denen er dann Unfug machte? Oder
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