Mord
doch imstande, dies zu kontrollieren, sich abzubremsen. Die Alkoholprobleme wurden heruntergespielt, ebenso die neuen Straftaten; eigentlich gab es mehr Pech als echte Fehler. Er versicherte seine Bereitschaft, sich aktiv in eine Therapie einzubringen. Draußen hatte er es ja versucht mit Alkoholikergruppen, und ganz früher hatte er ja mal Therapieerfahrungen. Auch von den Mehrbettzimmern in der Entwöhnungsklinik wollte er sich nicht abschrecken lassen.
Das Gericht, der Verteidiger, ich als Gutachter und auch der Staatsanwalt wollten nichts unversucht lassen, und so beschloss man, Siegfried in die geschlossene und gut bewachte Klinik für suchtkranke Straftäter zu stecken. Neun Monate nach seiner Festnahme wurde er in die Klinik am nördlichsten Rande der Stadt gefahren, in der Franz Biberkopf einst seine seelische Wandlung erfahren hatte. Hier blieb sie aus, um das Mindeste zu sagen.
Es lief nicht so, wie es sein sollte. Aber vielleicht ist der Moment, wenn man gerade mit allem gescheitert ist, was man sich vorgenommen hat, nicht der ideale Zeitpunkt, um alte Fehler unter die Nase gerieben zu bekommen und zugleich mit neuen Konzepten in die Zukunft zu stürmen.
Bereits nach relativ kurzer Zeit zeigte sich: Siegfried machte nicht mit, jedenfalls nicht so wie gewollt. Kurz nach seiner Aufnahme saß er in einer Einführungsrunde, hörte sich die Ausführungen zehn Minuten lang an, wurde immer unruhiger und sprach die Worte: «Mit diesem Kindergarten hier bin ich nicht einverstanden.» Er war vorlaut, auftrumpfend, nur auf Sendung und verbreitete seine Lebensweisheiten. Er war untergründig gereizt, streitsüchtig und stets bereit, mal schnell zu eskalieren. Bedrohung und Beleidigung von Mitarbeitern als tägliche Fitnessübung. Bei Aushändigung eines Messers brummte er beiläufig: «Das brauche ich, um den Pflegern die Kehle durchzuschneiden.» Als man sich darüber empörte, dementierte er diese Sentenz und erstattete Anzeige wegen Verleumdung.
Nach drei Monaten erklärte er im Einzelgespräch: «Über diesen Laden hier kann ich doch nur grinsen.» Und im Gruppengespräch, nach gut vier Monaten: «Mir geht das Ganze hier auf den Sack», und: «Das ist doch alles ein Witz hier.» Der Klinikpsychologin gegenüber, die seine Lebensgeschichte von ihm erfahren wollte, brillierte er mit protzenden Erzählungen seiner Kämpfe und Siege; nur mit Mühe konnte er von ihr zur Mäßigung bewogen werden. Vier Wochen nach Aufnahme erhielt er ein unzureichendes Frühstück und warf das Essenstablett zu Boden. Wenn ein Mitpatient nicht spurte, drohte er, er werde mit dem «ins Bad gehen». Als ein Mitpatient zu lange zu laut telefonierte, meinte er: «Irgendwann drücke ich den Kopf des Trottels ins Telefon.»
Hat er aber nicht getan. Ein einziges Mal kam es doch zu einer tätlichen Auseinandersetzung. Nachdem ein Mitpatient eine Tür laut zugemacht hatte, nahm Siegfried ihn in den Schwitzkasten und warf ihn zu Boden. Er erklärte, der Mitpatient habe ihn tagelang ständig provoziert. Er war dort natürlich nicht der einzige schlimme Finger.
In der Klinik fiel auf, woran man sich in Tegel schon gewöhnt hatte: dass er nicht warten kann. Er fragte, ob er etwas kopiert haben könne; als dem Wunsch nicht sofort entsprochen wurde, bediente er sich eigenmächtig am Stationskopierer. Eines Tages betrat er das Dienstzimmer, klopfte mit einem Stift auf den unbesetzten Tresen und rief: «Bedienung!» Die im Nebenzimmer am Tisch hockenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren pikiert. Sie ermahnten Siegfried angesichts dieser Ungebührlichkeit zu einem «adäquaten Umgang mit dem Personal».
Schließlich verweigerte er die meisten Therapien und Visiten, und die Klinik gab es auf, Siegfried einer «Persönlichkeitsnachreifung mit abstinenter Daseinsbewältigung zu unterziehen».
Die Strafvollstreckungskammer beendete dieses unglückliche Kapitel nach einem Jahr. Siegfried zog wieder heim zu den rauen Jungs, nach Tegel. Erst mal zu den Strafern, den Strafgefangenen, wegen der Taten in Freiheit; dafür gab es 4 Jahre. Dann war die Strafe verbüßt, und er wanderte wieder auf die Station der Sicherungsverwahrten. Das Gericht hatte die Sicherungsverwahrung nicht erneut angeordnet, aber die alte, von der er schon sechs Jahre abgemacht hatte, wird nun wieder vollzogen. Nicht mehr lang hin, dann hat er die zehn Jahre voll und müsste laut Straßburger Urteil entlassen werden. Es sei denn, es stünden ihm neue, schwere Verbrechen quasi
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