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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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albern von ihr, Missionsarbeit zu machen, wenn die Leute nicht einmal was zu essen und kein Dach über dem Kopf haben. Und Elsie hat immer nur mit Männern gearbeitet, obwohl die Frauen und Kinder am meisten leiden.« Clara, so setzte mir Nora auseinander, hatte größten Wert darauf gelegt, vor allem die Familien zu besuchen, wo der Mann weggelaufen oder bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen war. Auf diese Weise lernten Clara und Nora zahlreiche dieser Familien kennen und verbrachten viele Stunden in ihren Wohnungen. Nora kümmerte sich um die Kleinen, während sich Clara der Frauen und etwas älteren Kinder annahm. Einmal pro Woche suchten sie diese Familien mit Lebensmitteln und notwendigen Dingen des alltäglichen Lebens auf. Zweimal brachten sie Babys ins Krankenhaus, die schwer oder sogar lebensgefährlich erkrankt waren. Einmal, berichtete mir Nora düster, wurde ein Mädchen vermisst. Clara und sie sprachen in allen Polizeirevieren und Krankenhäusern der Innenstadt vor und fanden das Mädchen schließlich im Leichenschauhaus. Der Gerichtsmediziner stellte fest, dass das Mädchen vergewaltigt worden war. Die Mutter hatte niemanden, der sie getröstet oder unterstützt hätte; also sprang Clara ein. In diesem Frühling hatte Nora unvorstellbares Elend kennengelernt, aber auch, so vermutete ich, ein Familienleben voller Liebe und Wärme, wie sie es selbst nie erfahren hatte.
    Als sie zu Ende erzählt hatte, sahen wir uns schweigend an. Wie aus heiterem Himmel fragte sie plötzlich: »Würden Sie mich küssen, wenn ich Sie darum bitte?«
    »Bitten Sie mich nicht, Miss Acton.«
    Sie nahm meine Hand und zog sie an sich, sodass die Rückseite meiner Finger ihre Wange berührten.
    »Nein«, sagte ich scharf. Sie ließ sofort los. Das alles war natürlich meine Schuld. Ich hatte ihr jeden Grund zu der Annahme gegeben, dass sie sich solche Freiheiten herausnehmen konnte. Und jetzt hatte ich ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. »Bitte glauben Sie mir. Es gibt nichts, was ich lieber täte. Aber ich darf nicht. Damit würde ich nur Ihre Lage ausnutzen.«
    »Ich möchte, dass Sie meine Lage ausnutzen.«
    »Nein.«
    »Weil ich erst siebzehn bin?«
    »Weil Sie meine Patientin sind. Bitte hören Sie mir jetzt gut zu. Die Gefühle, die Sie für mich zu empfinden glauben – Sie dürfen diesen Gefühlen nicht vertrauen. Sie sind nicht real. Sie sind eine Folge Ihrer Behandlung. Das passiert mit jedem Patienten, der eine Psychoanalyse durchlebt.«
    Sie sah mich an, als hätte ich einen dummen Witz gemacht. »Meinen Sie wirklich, Ihre albernen Fragen haben mich dazu gebracht, dass ich Sie … mag?«
    »Überlegen Sie doch mal. Zuerst bin ich Ihnen völlig gleichgültig. Dann sind Sie wütend auf mich. Dann eifersüchtig. Dann … etwas anderes. Aber das bin nicht ich, den Sie damit meinen. Nichts, was ich getan habe. Nichts, was ich bin. Wie sollte das auch möglich sein? Sie wissen doch überhaupt nichts von mir. All diese Gefühle stammen aus einem anderen Teil Ihres Lebens. Sie treten an die Oberfläche, weil ich Ihnen diese albernen Fragen stelle. Aber sie gehören woanders hin. Es sind Gefühle, die Sie für jemand anders empfinden, nicht für mich.«
    »Sie meinen, ich bin verliebt in jemand anders? Wer soll das sein? George Banwell vielleicht?«
    »Vielleicht waren Sie in ihn verliebt.«
    »Niemals.« Ihre angewiderte Miene wirkte ziemlich überzeugend. »Ich verachte ihn.«
    Ich wagte den Sprung. Es widerstrebte mir, weil ich damit rechnete, dass sie mich fortan nur noch mit Abscheu betrachten würde, und weil der Zeitpunkt nicht gerade günstig gewählt war. Aber es war meine Pflicht. »Dr. Freud hat eine Theorie, Miss Acton, die vielleicht auf Sie zutrifft.«
    »Was für eine Theorie?« Sie machte einen zunehmend gereizten Eindruck.
    »Ich muss Sie warnen, diese Theorie ist äußerst unerfreulich. Er ist überzeugt, dass alle Menschen von klein auf den Wunsch hegen … den geheimen Wunsch … also, in Ihrem Fall denkt er … als Sie Mrs. Banwell mit Ihrem Vater gesehen haben, als Sie gesehen haben, wie sie vor Ihrem Vater kniet und ihn … äh … mit …«
    »Sie müssen es nicht aussprechen«, unterbrach sie mich.
    »Er glaubt, dass Sie eifersüchtig waren.«
    Sie starrte mich mit leerem Blick an.
    Anscheinend war ich nicht zu ihr durchgedrungen. »Direkt, körperlich eifersüchtig. Was Dr. Freud damit meint, ist Folgendes. Als Sie gesehen haben, was Mrs. Banwell mit Ihrem Vater macht, haben Sie sich

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