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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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alles.«
    »Klar.« Littlemore wies den Officer an, Chong Sing ins Gefängnis Tombs zu verfrachten. Der Detective blieb an Ort und Stelle. Er wollte den Hafen noch ein wenig genauer unter die Lupe nehmen. In seinem Kopf setzten sich die Puzzleteilchen neu zusammen – und allmählich bekam er das Gefühl, dass sie passten. Littlemore wusste, dass er am Fuß der Manhattan Bridge Lehm finden würde, und er hatte so eine Ahnung, dass George Banwell in diesen Lehm getreten sein konnte.
    Es war allgemein bekannt, dass Banwells Firma die Türme der Manhattan Bridge baute. Als Bürgermeister McClellan den Vertrag an Banwells American Steel Company vergab, hatten die Hearst-Zeitungen sofort Korruption gewittert. Sie verdammten den Bürgermeister wegen Bevorzugung eines alten Freundes und prophezeiten voller Häme Verzögerungen, Pannen und explodierende Kosten. Doch in Wirklichkeit hielt Banwell nicht nur den Kostenplan ein, sondern zog die Türme auch noch in Rekordzeit hoch. Er hatte die Arbeiten persönlich geleitet – und genau das hatte Littlemore auf seine Idee gebracht.
    Littlemore ging zum Fluss und tauchte in die Menge ein. Wenn er es darauf anlegte, konnte er sich praktisch unter alle möglichen Leute mischen, ohne aufzufallen. Littlemore wirkte locker, weil er tatsächlich locker war – vor allem wenn sich die Dinge zusammenfügten. Chong Sing hatte zwei Jobs, und beide Male war sein Arbeitgeber Mr. George Banwell. Wenn das nicht interessant war!
    Als Littlemore auf dem überfüllten mittleren Pier ankam, war gerade Schichtwechsel. Hunderte von schmutzigen Männern in Stiefeln quollen aus dem Eingang, während schon eine lange Schlange anderer Arbeiter darauf wartete, den Aufzug hinunter zum Senkkasten zu nehmen. Der Lärm der Turbinen erfüllte die Luft mit einem wütend stampfenden, mechanischen Rhythmus.
    Wenn man Littlemore gefragt hätte, woher er wusste, dass auch etwas Ungutes, Unerfreuliches in der Luft lag, hätte er keine Antwort gewusst. Nachdem er einige der Männer angesprochen hatte, war er bald über Seamus Malleys schlimmes Ende informiert. Der arme Malley, so berichteten ihm die Männer, war ein weiteres Opfer der Caisson-Krankheit. Als sie vor zwei Tagen am Morgen die Tür öffneten, fanden sie ihn tot im Aufzug. Blut war ihm aus Ohren und Mund gesickert.
    Die Männer beklagten sich bitter über den Senkkasten, den sie nur »Kasten« oder »Sarg« nannten. Manche hielten ihn für verflucht. Fast alle hatten Beschwerden, die sie auf den Sarg zurückführten, und die meisten waren froh, dass die Arbeiten fast vorbei waren. Nur die Älteren schnalzten mit der Zunge und meinten, dass sie allesamt ihre Sandbuddlertage vermissen würden, sobald sie keinen Lohn mehr bekamen. Was für einen Lohn denn?, entgegnete einer der Jüngeren. Konnte man drei Dollar für einen zwölfstündigen Arbeitstag wirklich als Lohn bezeichnen? »Schaut euch doch Malley an«, fügte er hinzu. »Nicht einmal ein Dach über dem Kopf hat er sich von unserem ›Lohn‹ leisten können. Und deswegen ist er jetzt tot. Die haben ihn umgebracht. Die werden uns noch alle umbringen.« Doch ein anderer wandte ein, dass Malley durchaus eine Wohnung hatte; nur hatte er dummerweise auch eine Frau – und das war der Grund, warum er dort unten im Kasten übernachtet hatte.
    Littlemore, der überall auf dem Pier rote Lehmspuren bemerkte, kniete sich hin, um unauffällig ein paar Proben einzusammeln. Er erkundigte sich, ob Mr. Banwell auch manchmal herunter auf den Pier kam. Die Antwort lautete ja. Mr. Banwell fuhr mindestens einmal pro Tag hinunter in den Sarg, um sich ein Bild vom Fortgang der Arbeit zu machen. Und manchmal wurde er dabei sogar vom Bürgermeister höchstpersönlich begleitet.
    Der Detective fragte, wie es war, für Banwell zu arbeiten. Die Hölle, hieß es. Die Männer waren sich darin einig, dass es Banwell völlig egal war, wie viele von ihnen dort unten im Senkkasten verreckten. Wichtig war nur, dass die Arbeit schnell gemacht wurde. Gestern hatte Banwell zum ersten Mal überhaupt so was wie Sorge um ihr Leben an den Tag gelegt.
    »Inwiefern?«, hakte Littlemore nach.
    »Er hat gemeint, wir sollen Fenster fünf vergessen.«
    Die Fenster, so erklärten die Männer Littlemore, waren eigentlich die Schuttschächte. Sie hatten alle eine Nummer, und Fenster fünf hatte sich Anfang der Woche verklemmt. Normalerweise hätte ihnen der Boss – Banwell – sofort befohlen, die Störung zu beseitigen. Diese Aufgabe hassten die

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