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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Sandbuddler, weil dafür ein schwieriges und gefährliches Manöver nötig war, bei dem sich mindestens ein Mann in das geflutete Fenster zwängen musste. Doch gestern hatte Banwell sie zum ersten Mal aufgefordert, sich nicht um das klemmende Fenster zu kümmern. Ein Arbeiter hielt es sogar für möglich, dass der Boss allmählich weich wurde, aber die anderen widersprachen ihm. Ihrer Meinung nach wollte Banwell nur so kurz vor der Fertigstellung der Brücke kein unnötiges Risiko eingehen.
    Littlemore ließ sich das alles durch den Kopf gehen. Dann trat er zum Aufzug.
    Der Fahrstuhlführer – ein runzliger alter Kauz ohne Haare auf dem Kopf – saß auf einem Hocker im Aufzug. Der Detective fragte ihn, wer in der Nacht von Malleys Tod die Aufzugtür verriegelt hatte.
    »Ich.« Ein gewisser Stolz auf seinen Posten schwang in der Stimme des Alten mit.
    »War der Aufzug hier oben am Pier, als Sie abgesperrt haben, oder war er unten?«
    »Hier oben natürlich. Bist wohl keiner von der schnellen Truppe, was, mein Junge? Wie kann mein Aufzug unten sein, wenn ich hier oben bin?«
    Das war eine gute Frage. Der Aufzug wurde per Hand bedient. Nur ein Mann im Fahrstuhl selbst konnte ihn nach oben oder unten steuern. Wenn der Aufzugführer die letzte Fahrt des Abends hinter sich hatte, musste der Wagen selbstverständlich oben am Pier sein. Doch der Detective konterte die gute Frage des Aufzugführers mit einer noch besseren. »Und wie ist er dann raufgekommen?«
    »Was?«
    »Der Tote. Dieser Malley. Am Dienstag sind doch alle hochgekommen, und nur er ist unten geblieben.«
    »Genau.« Der Alte schüttelte den Kopf. »Verdammter Trottel. War auch nicht das erste Mal. Ich hab ihm gesagt, dass er das nicht darf. Ich hab’s ihm gesagt.«
    »Und Sie haben ihn am nächsten Morgen hier oben am Pier in Ihrem Aufzug gefunden?«
    »Genau. Tot wie toter Fisch. Da können Sie noch sein Blut sehen. Seit zwei Tagen schrubbe ich jetzt schon dran rum, aber es geht nicht weg. Hab’s mit Seife probiert und mit Soda. Da drüben, sehen Sie?«
    »Aber wie ist er bloß raufgekommen?«, fragte der Detective noch einmal.

KAPITEL NEUNZEHN
     
    Hoch aufgerichtet stand C. G. Jung in der Tür zu Freuds Suite. Er war äußerst sorgfältig gekleidet. Nichts in seinem Benehmen deutete darauf hin, dass er soeben noch auf dem Boden seines Hotelzimmers mit Stöcken und Steinen gespielt hatte.
    Freud, der die Tür in Weste und Hemdsärmeln geöffnet hatte, bat seinen Gast, es sich bequem zu machen. Sein Instinkt sagte ihm, dass diese Unterhaltung von entscheidender Bedeutung war. Jung machte einen ausgesprochen merkwürdigen Eindruck. Ohne Brills Anschuldigungen Glauben zu schenken, gelangte Freud doch allmählich zu der Auffassung, Jung könnte dabei sein, sich aus seinem – Freuds – Einflussbereich zu entfernen.
    Er war sich dessen bewusst, dass Jung intelligenter und kreativer war als jeder andere seiner Anhänger – der Erste mit dem Potenzial, neues Terrain zu erschließen. Aber Jung litt zweifelsohne an einem Vaterkomplex. Als Jung ihn in einem seiner frühesten Briefe um eine Fotografie von sich gebeten und ihm versprochen hatte, sie »in Ehren« zu halten, fühlte sich Freud geschmeichelt. Doch als er ihn ausdrücklich bat, ihn nicht als ebenbürtigen Kollegen zu betrachten, sondern als Sohn, wurde es Freud ein wenig mulmig. Damals hatte er sich vorgenommen, größte Behutsamkeit walten zu lassen.
    Freud musste daran denken, dass Jung seines Wissens keine anderen männlichen Freunde hatte. Stattdessen umgab sich Jung mit Frauen, mit vielen Frauen – zu vielen. Das war die andere Schwierigkeit. Angesichts von Halls Mitteilung war es Freud nicht mehr möglich, einem Gespräch mit Jung über die junge Russin aus dem Weg zu gehen, die in ihrem Brief behauptet hatte, Jungs Patientin und Geliebte zu sein. Freud hatte den unverschämten Brief Jungs an die Mutter des Mädchens mit eigenen Augen gesehen. Und zu alledem kam jetzt noch Ferenczis Bericht über die Vorgänge in Jungs Hotelzimmer.
    Die einzige Sache, in der Freud völlig frei von Bedenken war, war Jungs Glaube an die Grundsätze der Psychoanalyse. In ihrer persönlichen Korrespondenz und in vielen Gesprächen unter vier Augen hatte Freud immer wieder geprüft, gebohrt, nachgehakt. Es konnte kein Zweifel bestehen, Jung war voll und ganz von der sexuellen Ätiologie überzeugt. Und er war auf die bestmögliche Weise zu dieser Auffassung gelangt: Er hatte Freuds Hypothesen in der klinischen

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