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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Irrenanstalt irgendwo im Hinterland.«
    »Ach ja?«
    »Ja.«
    »Dann kann er wohl auch nicht ihr Mörder sein«, bemerkte sie.
    »Schätze nicht.«
    »Dann brauchen wir uns aber auch nicht unterhalten, oder?«
    »Sie verheimlichen mir doch nichts, Susie?«
    »Wenn Sie unbedingt ins Gras beißen wollen, von mir aus, aber lassen Sie mich aus dem Spiel.« Mrs. Merrill stand auf und legte dreißig Cent auf den Tisch: fünf Cent für den Kaffee, zwanzig Cent für das Cornedbeef mit pochiertem Ei und fünf Cent Trinkgeld für die Kellnerin. »Auf mich wartet zu Hause ein Baby.«
    Littlemore packte sie am Arm. »Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen, Susie. Ich komm wieder und hol mir die Antworten, die ich brauche.«

KAPITEL ACHTZEHN
     
    Von der Verlegenheit, wie ich sie unter Noras erstarrtem Blick spürte, war Clara Banwell nichts anzumerken. Heiter plaudernd nahm sie Abschied und ging völlig unbeschwert darüber hinweg, dass sie und ich gerade viel zu nahe beieinandergestanden hatten und in einer, zumindest von außen betrachtet, reichlich verfänglichen Situation ertappt worden waren. Sie streckte mir ihre Hand hin, küsste Nora auf die Wange und verzichtete rücksichtsvollerweise darauf, zur Tür gebracht zu werden; offenbar wollte sie Noras Behandlung um keinen einzigen Augenblick mehr hinauszögern. Sekunden später hörte ich, wie die Eingangstür hinter ihr ins Schloss fiel.
    Nora stand auf der gleichen Stelle wie Mrs. Banwell noch vor wenigen Minuten. Angesichts der grauenvollen Ereignisse der vergangenen Nacht hatte ich wirklich keine Veranlassung, auf ihr Aussehen zu achten, aber ich konnte einfach nicht anders. Es war nicht zu fassen. Man konnte kilometerweit durch New York City laufen – so wie ich heute Morgen – oder einen ganzen Monat in der Grand Central Station verbringen, ohne je eine Frau von hinreißender äußerer Schönheit zu sehen. Und jetzt hatten im Verlauf von fünf Minuten gleich zwei im Wohnzimmer der Actons vor mir gestanden. Doch was für ein Gegensatz zwischen den beiden!
    Nora verzichtete auf alle Zierden, auf Schmuck, auf bestickte Stoffe. Sie trug weder einen Sonnenschirm noch einen Schleier. Sie hatte eine schlichte weiße Bluse an, deren Ärmel bis zu den Ellbogen reichten und die an der unglaublich schlanken Taille in einem himmelblauen Plisseerock steckte. Der dezente Ausschnitt ihrer Bluse gab den Blick frei auf grazile Schlüsselbeine und einen entzückenden Hals. Dieser Hals schimmerte inzwischen fast wieder makellos weiß, die Male waren verblasst. Wie immer war ihr blondes Haar nach hinten zu einem Zopf gebunden, der beinahe bis zu ihrer Taille reichte. Sie war nur, wie Mrs. Banwell bemerkt hatte, ein Mädchen. Aus allen Flächen und Rundungen ihrer Erscheinung trat einem ihr zartes Alter entgegen, vor allem aus der lebhaften Farbe ihrer Wangen und Augen, die die Hoffnung, die Frische und, so muss ich hinzufügen, den Zorn der Jugend ausstrahlten.
    »Ich hasse Sie mehr als jeden anderen Menschen, der mir je begegnet ist«, stieß sie hervor.
    Damit war ich nun stärker als je in die Position ihres Vaters gedrängt. Wie von einem unerbittlichen Schicksal geleitet, hatte sie mich und Clara Banwell eng beisammen in einem Arbeitszimmer gefunden, so wie sie vor drei Jahren in einem anderen Arbeitszimmer ihren Vater und Clara Banwell bei deren Treiben entdeckt hatte. Der entscheidende Unterschied – dass sich zwischen Mrs. Banwell und mir nichts abspielte – war ihr offensichtlich entgangen. Das überraschte mich eigentlich nicht. Nicht ich war es, den sie voller Empörung anstarrte, sondern ihr Vater, der zufällig meine Kleider trug. Hätte ich danach gestrebt, die mit der Psychoanalyse einhergehende Übertragung zu zementieren, hätte ich auf kein günstigeres Zusammenwirken der Ereignisse hoffen können. Jetzt hatte ich die Gelegenheit – und die Pflicht -, Nora auf die Verwechslung in ihrem Kopf hinzuweisen, damit sie erkennen konnte, dass der Zorn, den sie gegen mich zu fühlen glaubte, in Wirklichkeit die fehlgeleitete Wut auf ihren Vater war.
    Anders ausgedrückt, ich war gehalten, meine eigenen Emotionen zu verbergen. Selbst die geringsten Spuren meiner Empfindungen für sie musste ich ihr verhehlen, auch wenn sie noch so echt und noch so stark waren. »Dann bin ich Ihnen gegenüber im Nachteil, Miss Acton«, erwiderte ich, »denn ich liebe Sie mehr als jeden Menschen, der mir je begegnet ist.«
    Mehrere Herzschläge lang umhüllte uns vollkommene Stille.
    »Ist

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