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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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tief Luft und schrie – so laut und lange, wie sie nur konnte. Dann fiel sie wahrscheinlich in Ohnmacht. Als Nächstes entdeckte sie Mrs. Biggs an ihrer Seite.
    Während sie all dies berichtete, blieb Nora ganz gefasst, die Hände im Schoß gefaltet. Ohne ihre Haltung zu ändern, fragte sie: »Finden Sie mich jetzt abstoßend?«
    »Nein«, antwortete ich. »War der Mann in Ihrer Erinnerung Banwell?«
    »Ich dachte es. Aber der Bürgermeister hat doch …«
    »Der Bürgermeister hat erklärt, dass Banwell Sonntagnacht mit ihm zusammen war, als das andere Mädchen ermordet wurde. Wenn Sie sich an Banwell als Ihren Angreifer erinnern, müssen Sie es sagen.«
    »Ich weiß es nicht«, jammerte Nora. »Ich glaube schon. Aber ich weiß es einfach nicht. Er war doch die ganze Zeit hinter mir.«
    »Erzählen Sie mir von gestern Nacht.«
    Die Geschichte von dem Eindringling in ihrem Zimmer brach aus ihr heraus. Diesmal war sie sich ganz sicher, dass es Banwell gewesen war. Auch jetzt wandte sie sich zum Ende ihrer Erzählung hin von mir ab. Verschwieg sie mir etwas?
    »Ich besitze keinen Lippenstift«, schloss sie in ernstem Ton. »Und schon gar nicht so ein abscheuliches Ding, wie es in meinem Wandschrank gefunden wurde. Wo soll ich das denn überhaupt herhaben?«
    Ich wies sie auf etwas Naheliegendes hin. »Sie tragen jetzt auch Make-up.« Auf ihren Lippen lag ein zarter Glanz und auf ihren Wangen ein Hauch von Rouge.
    »Aber das ist doch von Clara!«, rief sie aus. »Sie hat mich geschminkt. Sie hat gemeint, dass mir das steht.«
    Eine Weile saßen wir schweigend da.
    Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. »Sie glauben mir kein Wort.«
    »Ich glaube nicht, dass Sie mich anlügen würden.«
    »Doch, das würde ich. Ich hab es schon getan.«
    »Wann?«
    »Als ich gesagt habe, dass ich Sie hasse«, erwiderte sie nach einer längeren Pause.
    »Sie verheimlichen mir etwas.«
    »Was meinen Sie?«
    »Gestern Nacht war da noch was anderes – etwas, das Sie an sich zweifeln lässt.«
    »Woher wissen Sie das?« Erstaunt blickte sie mich an.
    »Sagen Sie es mir einfach.«
    Zögernd bekannte sie, dass sie sich etwas Bestimmtes an ihrem Erlebnis von gestern Nacht nicht erklären konnte. Sie hatte das furchtbare Geschehen nicht aus ihrem normalen Blickwinkel verfolgt, sondern aus einer Position über sich und dem Eindringling. Sie hatte sich auf dem Bett liegen sehen, ganz als wäre sie eine bloße Beobachterin der Szene und nicht das Opfer. »Wie kann so was sein, Dr. Younger? So was ist doch gar nicht möglich, oder?«
    Ich wollte sie beruhigen, aber was ich ihr zu sagen hatte, war nicht sehr tröstlich. »Was Sie da beschreiben, entspricht dem, was wir manchmal in Träumen sehen.«
    »Aber wenn ich es geträumt habe, woher stammt dann die Brandwunde?«, flüsterte sie. »Ich hab mich doch nicht selbst verbrannt, oder? Oder?«
    Ich war zu keiner Antwort fähig, denn ich wurde von einer noch schlimmeren Vorstellung gequält. Konnte es sein, dass sie sich auch diese schrecklichen Verletzungen – die Verletzungen vom ersten Überfall – selbst zugefügt hatte? Ich versuchte mir auszumalen, wie sie ein Messer oder Rasiermesser über ihre weiche Haut zog, bis es blutete. Ich wollte es einfach nicht glauben.
    Aus der Innenstadt erschallte plötzlich das ferne Tosen menschlicher Stimmen. Nora fragte mich, was das sein konnte. Wahrscheinlich die Streikenden, antwortete ich. Nach irgendwelchen Arbeitskämpfen in der Stadt hatten die Gewerkschaftsführer heute einen Protestmarsch angekündigt. Ein notorischer Aufwiegler namens Gompers hatte geschworen, die Industrie der Stadt mit einem Streik lahmzulegen.
    »Der Streik ist mehr als berechtigt.« Nora schien froh über die Gelegenheit, sich abzulenken. »Die Kapitalisten sollten sich schämen. Sie lassen diese Leute für sich arbeiten und zahlen ihnen nicht mal so viel, dass sie ihre Familien ernähren können. Haben Sie jemals gesehen, in welchen Verhältnissen diese Menschen hausen?«
    Dann beschrieb sie mir, wie sie den ganzen Frühling über zusammen mit Clara Banwell in der Lower East Side Familien in ihren Mietwohnungen besucht hatte. Das war Claras Idee gewesen. Bei dieser Gelegenheit hatte sie auch Elsie Sigel mit dem Chinesen getroffen, nach dem sich Detective Littlemore erkundigt hatte.
    »Elsie Sigel?« Ich erinnerte mich daran, dass Aunt Mamie bei ihrer Gala Miss Sigel erwähnt hatte. »Die nach Washington durchgebrannt ist?«
    »Ja«, antwortete Nora. »Ich fand es ziemlich

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