Morddeutung: Roman (German Edition)
halten.«
»Abraham«, ging Rose tadelnd dazwischen, »er trägt doch nur den Anzug eines anderen.«
»Rose ist extra vorbeigekommen«, erklärte Brill, »damit sie allen erzählen kann, was für ein Feigling ich bin.«
»Nein«, erwiderte Rose resolut, »ich bin hergekommen, um Dr. Freud aufzufordern, dass er und Abraham die Veröffentlichung von Dr. Freuds Buch nicht aufschieben dürfen. Feiglinge sind diejenigen, die diese grausigen Nachrichten hinterlassen. Abraham hat mir alles erzählt, Dr. Younger. Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Es kann nicht sein, dass in diesem Land Bücher verbrannt werden. Haben die noch nie was von Pressefreiheit gehört?«
»Sie sind in unsere Wohnung eingedrungen, Rosie«, entgegnete Brill, »und haben sie in Asche begraben.«
»Und deswegen willst du dich jetzt in einem Mauseloch verkriechen?«
»Ich hab’s Ihnen ja gesagt.« Brill zog hilflos die Augenbrauen hoch.
»Also, ich verkrieche mich nicht. Und ich will auch nicht, dass du dich hinter meinen Rockzipfeln versteckst und dabei so tust, als würdest du mich beschützen. Dr. Younger, Sie müssen mir helfen. Sagen Sie Dr. Freud, dass ich es als Beleidigung empfinde, wenn irgendwelche Sorgen um meine Sicherheit das Erscheinen dieses Buchs verzögern. Wir sind hier in Amerika. Wozu haben denn diese jungen Männer in Gettysburg ihr Leben gelassen?«
»Um dafür zu sorgen, dass die Sklaverei zur Lohnsklaverei wird?«, fragte Brill
»Ach, sei doch still. Sein ganzes Herz hat Abraham in dieses Buch gelegt. Es hat seinem Leben einen Sinn gegeben. Wir sind nicht reich, aber wir haben zwei Dinge in diesem Land, die wertvoller sind als alles andere: Würde und Freiheit. Was bleibt uns denn noch, wenn wir solchen Leuten nachgeben?«
»Jetzt zieht sie auch noch in den Präsidentschaftswahlkampf.« Brills Bemerkung veranlasste Rose dazu, mit ihrer Handtasche einen Angriff gegen seine Schulter zu führen. »Aber Sie verstehen jetzt sicher, warum ich sie geheiratet habe.«
»Ich meine es ernst.« Rose rückte ihren verrutschten Hut zurecht. »Freuds Buch muss veröffentlicht werden. Ich verlasse dieses Hotel erst, wenn ich ihm das persönlich gesagt habe.«
Ich lobte Rose für ihre Unerschrockenheit und handelte mir dafür einen Rüffel von Brill ein, der erklärte, dass ich mich in meinem Leben wohl noch keiner größeren Gefahr ausgesetzt hatte, als eine ganze Nacht mit Debütantinnen durchzutanzen. Ich erwiderte, dass er da wahrscheinlich recht hatte, und erkundigte mich nach Freud. Anscheinend war er an diesem Morgen noch nicht heruntergekommen. Laut Ferenczi, der bei ihm angeklopft hatte, war er »unverdaut«. Außerdem, so fügte Ferenczi flüsternd hinzu, hatte es gestern Abend einen Riesenkrach zwischen Freud und Jung gegeben.
»Es wird einen noch schlimmeren Krach geben, wenn Freud den Brief sieht, den Younger heute morgen von Hall gekriegt hat.« Brill reichte mir das Schreiben, das er am Empfang abgeholt hatte.
»Sie haben doch nicht allen Ernstes meine Korrespondenz geöffnet, Brill?«
»Ist er nicht furchtbar?« Rose meinte ihren Gatten. »Er hat es getan, ohne uns etwas davon zu sagen. Ich hätte es nie zugelassen.«
»Der Brief ist doch von Hall, um Gottes willen«, protestierte Brill. »Younger war spurlos verschwunden. Wenn Hall vorhat, Freuds Vorlesungen abzusagen, dann müssen wir das doch irgendwie erfahren.«
»Das ist unmöglich«, rief ich.
»Es steht praktisch schon fest«, erwiderte Brill. »Sehen Sie selbst.«
Es war ein großer Umschlag, in dem sich ein zusammengefalteter Pergamentbogen befand. Als ich ihn glatt gestrichen hatte, blickte ich auf einen ganzseitigen Zeitungsartikel mit sieben Spalten unter der großen Schlagzeile: EIN TRAGI-SCHER AUGENBLICK FÜR AMERIKA – DR. C. G. JUNG. Eine Ganzkörperaufnahme darunter zeigte den würdevollen Jung mit Brille, der als »der berühmte Schweizer Psychiater« bezeichnet wurde. Merkwürdig daran war, dass das Papier viel zu dick und zu hochwertig für Zeitungsdruck war. Noch verwirrender war, dass oben als Datum Sonntag, der 5. September stand – übermorgen.
»Das ist der Fahnenabzug eines Artikels, der am Sonntag in der New York Times erscheint«, erklärte Brill. »Lesen Sie Halls Brief.«
Mein lieber Younger,
beigefügtes Dokument habe ich heute von der Familie erhalten, die der Universität die besagte großzügige Schenkung in Aussicht gestellt hat. Wie ich höre, handelt es sich um eine Seite der New York Times vom kommenden
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