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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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recht behalten. Die Reservierung hatte noch Bestand. Der Empfangsangestellte reichte ihr den Schlüssel, und sie verschwand im Aufzug.
    Ich hielt Mrs. Banwells Besuch nicht für besonders klug. Schließlich konnte ihr ihr Mann gefolgt sein. Wahrscheinlich hatte Nora sie angerufen. Und wenn es Nora gelungen war, mich hinters Licht zu führen, dann konnte Clara wohl auch ihrem Mann das Ziel ihres nächtlichen Ausgangs verheimlichen.
    Freuds Bemerkungen über Noras Gefühle für Clara fielen mir wieder ein. Natürlich war er noch immer überzeugt, dass Nora inzestuöse Wünsche hegte. Ich hingegen nicht mehr. Ja, angesichts meiner Deutung von Sein oder Nichtsein war ich sogar zu der Auffassung gelangt, den gesamten Ödipuskomplex auf den Kopf gestellt zu haben. Freud hatte recht gehabt: Er hatte tatsächlich der Natur einen Spiegel vorgehalten, doch was er darin erblickt hatte, war ein seitenverkehrtes Spiegelbild der Realität.
    Nicht der Sohn ist es, sondern der Vater. Sicher, wenn ein kleiner Junge die Szene betritt, in der seine Mutter und sein Vater spielen, wird ein Teil dieses Trios häufig unter tiefer Eifersucht leiden: der Vater. Natürlich muss er das Gefühl haben, dass der Junge sich in die besondere und ausschließliche Beziehung mit seiner Frau drängt. Insgeheim will er den nuckelnden, wimmernden Eindringling, den die Mutter für so vollkommen hält, loshaben. Vielleicht wünscht er sogar seinen Tod.
    Der Ödipuskomplex ist real, aber der Gegenstand all seiner Aussagen sind die Eltern, nicht das Kind. Und je mehr das Kind heranwächst, desto schlimmer wird es. Ein Mädchen konfrontiert ihre Mutter schon bald mit einer Figur, deren Jugend und Schönheit der Mutter einen Stich versetzen müssen. Ein Junge wird seinen Vater irgendwann übertreffen, und der Vater kann sich des Gefühls nicht erwehren, vom unaufhaltsamen Rad des Generationenwechsels zermalmt zu werden.
    Aber welche Eltern würden sich den Wunsch eingestehen, ihren eigenen Nachwuchs töten zu wollen? Welcher Vater wird zugeben, dass er auf den eigenen Sohn eifersüchtig ist? Daher muss der Ödipuskomplex auf die Kinder projiziert werden. Eine Stimme flüstert Ödipus’ Vater ins Ohr, dass nicht er es ist, der einen geheimen Vernichtungswunsch gegen seinen Sohn hegt, sondern umgekehrt Ödipus, der die Mutter begehrt und den Tod des Vaters plant. Je heftiger die Eltern von Eifersucht geplagt werden, desto zerstörerischer wird ihr Verhalten gegen ihre Kinder sein. Und in diesem Fall kann es natürlich passieren, dass sie ihre Kinder gegen sich aufbringen und damit genau die Situation schaffen, die sie gefürchtet hatten. Das ist die Lehre, die wir aus dem Stück Ödipus ziehen können . Freud hat es falsch gedeutet: Das Geheimnis ödipaler Wünsche liegt nicht im Herzen des Kindes, sondern der Eltern.
    Schade war nur, dass mir diese Entdeckung, wenn es denn eine war, so schal und nutzlos vorkam. Wozu war sie jetzt noch gut? Wozu war das Denken überhaupt gut?

     
    »Das ist empörend.« Coroner Hugel war deutlich anzumerken, dass er seine Wut nur mit Mühe im Zaum halten konnte. »Ich verlange eine Erklärung.«
    George Banwell ächzte vor Schmerz, als ihm Mrs. Biggs ein Pflaster auf den Kopf drückte. In seinen Haaren klebte noch geronnenes Blut, aber es lief ihm nicht mehr über die Wangen.
    »Was hat das zu bedeuten, Littlemore?«, fragte der Bürgermeister.
    »Wollen Sie es ihm sagen, Mr. Hugel?«, erwiderte der Detective. »Oder soll ich das übernehmen?«
    »Was soll er mir sagen?«, drängte McClellan.
    »Lassen Sie mich los«, fauchte der Coroner Reardon an.
    »Lassen Sie ihn los, Officer.« Reardon folgte sofort der Anweisung des Bürgermeisters.
    »Ist das wieder mal einer von Ihren kleinen Scherzen, Littlemore?« Hugel zupfte seinen Anzug zurecht. »Hören Sie nicht auf das, was er erzählt, McClellan. Erst gestern hat dieser Kerl auf meinem Seziertisch den toten Mann gespielt.«
    Der Bürgermeister wandte sich an Littlemore. »Ist das wahr?«
    »Ja, Sir.«
    »Sehen Sie?« Hugels Stimme wurde lauter. »Ich bin nicht mehr in Diensten der Stadt. Meine Kündigung gilt seit heute Nachmittag, fünf Uhr. Sie liegt auf Ihrem Schreibtisch, McClellan, auch wenn Sie sie wahrscheinlich nicht gelesen haben. Guten Abend.«
    »Lassen Sie ihn nicht gehen, Mr. Mayor«, sagte Littlemore.
    Der Coroner achtete nicht auf ihn. Er setzte sich den Hut auf und marschierte zur Tür.
    »Lassen Sie ihn nicht gehen, Sir.«
    »Mr. Hugel, ich muss Sie bitten

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