Morddeutung: Roman (German Edition)
bemerkt, dass sich hinter den Vorhängen ein Mann vorbeigestohlen hatte. Aber er blickte nicht nach oben.
Der Eindringling löste die weiße Seidenkrawatte von seinem Hals. Leise zog er sie aus dem Kragen und schlug ihre Enden um seine Hände. Er näherte sich Noras Bett. Trotz der Dunkelheit konnte er die schlafende Gestalt darauf erkennen. Er sah die Linie, wo ihr hübsches Kinn in ihren weichen, schutzlosen Hals überging. Er ließ die Krawatte zwischen Kopfbrett und Kissen gleiten und schob sie unter dem Kissen durch, langsam weiter, immer näher zum Hals des Mädchens, unendlich langsam, bis die beiden Enden unter dem Kissen hervorlugten. Die ganze Zeit lauschte er auf ihren Atem, der leise und ruhig ging.
Es ist eine interessante Frage, ob das im Bett versteckte Küchenmesser dem Mädchen etwas geholfen hätte, wenn Mrs. Mildred Acton es nicht entfernt hätte. Hätte Nora Acton, aus tiefem Schlaf gerissen, nach dem Messer greifen können? Und hätte sie es in diesem Fall auch benutzen können? Nora schlief immer auf dem Bauch. Selbst wenn sie das Messer in die Hände bekommen hätte, hätte sie – mit einer würgenden Krawatte um den Hals – damit um ihr Leben kämpfen können?
Alles hervorragende Fragen, aber auch allesamt akademisch, denn nicht nur das Messer war nicht da, sondern auch Nora.
»Hände hoch, Mr. Banwell«, ertönte eine Stimme hinter dem Eindringling, und gleichzeitig bohrte sich die Mündung einer Waffe in seinen Rücken. Plötzlich wurde das Zimmer von einer elektrischen Lampe erleuchtet, mit der ein uniformierter Polizist in der Tür stand. George Banwell schlug die Hände vors Gesicht.
»Treten Sie vom Bett zurück, Mr. Banwell.« Der Lauf von Detective Littlemores Revolver grub sich noch immer nachdrücklich in Banwells Rücken. »Okay, Betty. Du kannst jetzt aufstehen.«
Mit einem ängstlichen, aber auch ein wenig herausfordernden Ausdruck verließ Betty Longobardi das Bett. Während Littlemore Banwells Taschen abklopfte, warf er einen flüchtigen Blick auf Noras Kamin. Wie erwartet war dort eine Wandtafel aufgeschwenkt, hinter der ein Geheimgang zu erahnen war. »Na gut. Nehmen Sie jetzt die Hände runter. Hinter den Rücken und schön langsam.«
Banwell verharrte reglos. »Was ist Ihr Preis?«
»Mehr, als Sie zahlen können«, antwortete Littlemore.
»Zwanzigtausend.« Banwells Hände waren noch immer über dem Kopf. »Jeder von euch kriegt zwanzigtausend Dollar von mir.«
»Hände hinter den Rücken«, befahl Littlemore noch einmal.
»Fünfzigtausend.« In den Lichtstrahl blinzelnd, konnte Banwell erkennen, dass jetzt hinter dem Mann mit der Lampe noch jemand an der Tür stand. Zusammen mit dem, der ihm die Waffe in den Rücken hielt, also drei Leute. Bei dem Wort fünfzigtausend bewegten sich die beiden Leute bei der Tür unruhig hin und her. Banwell wandte sich an sie. »Überlegt es euch, Jungs. Ihr seid doch nicht blöd, das sehe ich euch doch an. Was meint ihr wohl, wo Chief Inspector Byrnes sein Geld herhat? Wisst ihr, wie viel Byrnes auf der Bank hat? Dreihundertfünfzig Riesen. Ja, ihr habt richtig gehört. Ich hab ihn reich gemacht, und ich kann auch euch reich machen.«
»Das wird dem Bürgermeister aber nicht gefallen, dass Sie uns bestechen wollen.« Littlemore zog Banwells einen Arm nach unten und ließ eine Hälfte der Handschellen einschnappen.
»Wollt ihr wirklich auf diesen Trottel hinter mir hören?« Banwell redete noch immer mit den zwei Männern an der Tür. Trotz seiner misslichen Lage klang seine Stimme stark und selbstsicher. »Dem breche ich beim Prozess das Rückgrat. Ich breche ihm das Rückgrat, habt ihr gehört? Seid nicht dumm. Wollt ihr vielleicht euer ganzes Leben lang arm sein? Denkt an eure Frau und an eure Kinder. Wollt ihr, dass sie ihr ganzes Leben lang arm bleiben? Macht euch keine Sorgen um den Bürgermeister. Den Bürgermeister hab ich in der Tasche.«
»Ist das so, George?«, ließ sich der Mann hinter dem Polizisten mit der Lampe vernehmen. Er trat ins Licht. Es war Bürgermeister McClellan. »Glaubst du das wirklich?«
Littlemore legte die Handschellen um Banwells anderen Arm, und das Schloss rastete mit einem befriedigenden Klicken ein. Mit einer für einen Mann seiner Größe erstaunlichen Schnelligkeit riss sich Banwell aus dem Griff des Detectives los und stürmte trotz der nach hinten gefesselten Arme auf den Geheimgang zu. Aber er musste abbremsen und sich ducken, um hineinzugelangen, und das war sein Verderben.
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