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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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sie das luxuriös eingerichtete Arbeitszimmer eines Mannes. Die Wände waren von Bücherregalen gesäumt, die allerdings nicht mit Büchern gefüllt waren, sondern mit einer Ansammlung von Modellbrücken und -gebäuden. Mitten im Raum stand ein wuchtiger Schreibtisch mit Messinglampen darauf. Littlemore schaltete eine von ihnen ein. Leise verließen er und Betty das Arbeitszimmer und traten in einen Flur. Sie durchquerten ein weißes Marmorfoyer. Dann hörten sie ein gedämpftes Geräusch. Weiter hinten im Flur, nach dem geräumigsten Wohnzimmer, das Littlemore und Betty je gesehen hatten, drehte sich klappernd ein Türgriff hin und her. Offensichtlich befand sich jemand hinter dieser Tür und versuchte vergeblich, sie zu öffnen. Rufend stellte sich Littlemore als Police Detective vor.
    Eine Frauenstimme antwortete. »Öffnen Sie die Tür. Lassen Sie mich raus.«
    Littlemore brauchte nicht lang dafür. Als die Tür aufging, kam eine Wäschekammer zum Vorschein und dazu der Rücken einer Frau, die mit nach hinten gefesselten Händen in diesen für einen Menschen viel zu engen Raum gestopft worden war. Mrs. Clara Banwell drehte sich um. Sie dankte dem Detective und bat ihn, sie loszubinden.

     
    Schweiß glänzte auf Harry Kendall Thaws Stirn, als er den Polizisten auf der anderen Seite des Gramercy Park beobachtete, der unter der Gasstraßenlaterne vor dem Haus der Actons auf und ab patrouillierte. Schweiß durchnässte den Hemdrücken unter seinem Smoking und sickerte durch seine Ärmel und Hosenbeine.
    Von seiner Position auf der East Twenty-first Street zwischen Park Avenue und Lexington Avenue konnte Thaw die ganze Reihe von stattlichen Häusern am südlichen Gramercy Park sehen. Er konnte den Players Club sehen, der heute, am Freitagabend, hell erleuchtet war. Er konnte sogar durch die durchscheinenden Vorhänge vor den Erdgeschossfenstern des Clubs die betuchten älteren Herren und die jungen Damen mit bloßen Schultern sehen, die mit Cocktails und Martinis in der Hand auf und ab liefen.
    Thaws Augen waren besser als die C. G. Jungs. Zwei Stockwerke über dem Polizisten bemerkte er eine Bewegung auf dem Dach der Actons. Dort zeichnete sich vor dem nächtlichen Himmel die Silhouette eines anderen Polizisten und des Gewehrs ab, das er bei sich trug. Thaw war ein drahtiger Mann, so dünn, dass er fast schon zerbrechlich wirkte, mit Armen, die ein wenig länger waren als normal. Für einen Mann Ende dreißig wirkte sein Gesicht erstaunlich jungenhaft. Beinahe hätte er als gut aussehend gelten können, wenn da nicht die Tatsache gewesen wäre, dass seine kleinen Augen ein wenig zu tief lagen und seine Lippen ein wenig zu dick waren. Und ganz gleich, ob er sich gerade bewegte oder nicht, er schien ständig außer Atem.
    Jetzt machte sich Thaw auf den Weg. Sich immer im Schatten haltend, ging er nach Osten. Er zog den Hutrand noch weiter ins Gesicht, als er die Lexington Avenue überquerte. Das Haus hier an der Ecke kannte er sehr gut. Früher hatte er es stundenlang beobachtet und darauf gelauert, ob ein bestimmtes Mädchen herauskommen würde, ein hübsches Mädchen, dem er wehtun wollte, so weh, dass er am ganzen Körper ein Prickeln spürte. Er blieb neben dem Eisenzaun des Parks, bis er dessen südöstliche Ecke erreichte und ihn die Irving Street von den wachsamen Polizisten trennte. Sie bemerkten nicht, wie Thaw in die Seitengasse hinter den Häusern am südlichen Gramercy Park eintauchte.

     
    Fünf Kilometer entfernt hatte Coroner Charles Hugel in seiner Wohnung in den zwei oberen Stockwerken des kleinen Hauses an der Warren Street seine Koffer gepackt. Er stand mitten in seinem Wohnzimmer und biss sich nervös auf die Knöchel. Dem Bürgermeister hatte er sein Rücktrittsgesuch geschickt. Dem Hausherrn hatte er gekündigt. Er war zur Bank gegangen und hatte sein Konto aufgelöst. Alles Geld, das er besaß, lag in sauberen Haufen aufgestapelt vor ihm auf dem Boden. Jetzt musste er sich überlegen, wie er es tragen wollte. Er bückte sich und fing an zu zählen – zum dritten Mal. Wieder fragte er sich, ob es reichen würde, um in einer anderen, kleineren Stadt ein neues Leben anzufangen. Zuckend öffnete sich seine Hand, und Fünfzigdollarscheine segelten durch die Luft, als er das Pochen an der Tür hörte.

     
    Wenn der Polizeibeamte vor dem Haus der Actons nach oben geblickt hätte, wäre ihm vielleicht ein tieferer Schatten am Fenster von Noras Schlafzimmer aufgefallen. Und möglicherweise hätte er

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