Morddeutung: Roman (German Edition)
nicht springen? Lass dich einfach davontragen. Das ist dir doch bestimmt viel lieber.«
Nora konnte die Uhr auf dem Metropolitan Life Tower eineinhalb Kilometer südlich erkennen. Es war Mitternacht. Im Westen erahnte sie das helle Leuchten des Broadway. »Sein oder Nichtsein«, flüsterte sie.
»Nichtsein, fürchte ich.«
»Darf ich dich noch um etwas bitten?«
»Ich weiß nicht, meine Liebe. Was denn?«
»Kannst du mich küssen? Nur ein einziges Mal, bevor ich sterbe?«
Clara Banwell ließ es sich durch den Kopf gehen. »Na schön.«
Langsam wandte sich Nora um, ihre Hände umklammerten hinter ihrem Rücken das Geländer. Sie blinzelte sich die Tränen aus den blauen Augen und hob das Kinn fast unmerklich in die Höhe. Den Revolver auf Noras Taille gerichtet, streifte Clara ihr ein Haar vom Mund. Nora schloss die Augen.
Ich stand vor dem Waschbecken in meinem Hotelzimmer und klatschte mir Wasser ins Gesicht. Jetzt war mir klar, dass Nora in ihrer Familie das Objekt eines Ödipuskomplexes von genau jener spiegelbildlichen Art war, wie ich sie mir gerade zurechtgelegt hatte. Aber Noras Fall war noch komplizierter – wegen der Banwells. Freud hatte recht: In gewissem Sinn waren die Banwells zu Noras Ersatzeltern geworden. Banwell begehrte Nora – wieder der umgekehrte Ödipuskomplex -, doch Nora begehrte anscheinend Clara. Das passte nicht ins Bild. Und im Grunde passte auch Clara nicht ins Bild. Sie hatte die heikelste Position von allen inne. Nach Freuds Auffassung hatte sie Noras Freundschaft gesucht und durch die Beschreibung ihrer sexuellen Erfahrungen ihr Vertrauen gewonnen. Freud war fest davon überzeugt, dass Nora eifersüchtig auf Clara sein musste. Doch nach meiner neuen Einschätzung hätte Clara auf Nora eifersüchtig sein müssen. Eigentlich hätte sie sie hassen müssen. Sie hätte ihr nach dem …
Wie von der Tarantel gestochen stürmte ich aus dem Zimmer.
Als sich ihre Lippen trafen, packte Nora Claras Hand, die Hand mit der Waffe. Der Revolver ging los. Nora war außerstande, Clara die Waffe zu entwinden, aber es war ihr gelungen, den Lauf von ihrem Körper wegzulenken. Die Kugel flog in die Luft über der Stadt.
Die Hand zur Kralle geformt, fuhr Nora über Claras Gesicht und riss ihr die Haut über und unter dem Auge auf. Als Clara vor Schmerzen aufschrie, biss Nora sie, so fest sie konnte, in die Hand – wieder die Hand mit der Waffe. Der Revolver knallte auf den Betonboden des Balkons und schlitterte zurück ins Hotelzimmer.
Mit voller Wucht schlug Clara Nora ins Gesicht. Dann schlug sie zum zweiten Mal zu und zerrte sie an den Haaren zum Balkonrand. Dort bog sie Nora nach hinten über das Geländer. Noras lange Strähnen hingen direkt über der weit, weit unten gelegenen Straße.
Nora winkelte ein Bein an und stampfte auf Claras Fuß hinab. Ein Stöckelabsatz grub sich in Claras Rist. Clara stieß einen entsetzlichen Schrei aus, und Nora konnte sich losreißen. Sie schaffte es an Clara vorbei und durch die Glastüren, doch dann stürzte sie zu Boden, da sie in Claras Schuhen nicht laufen konnte. Hastig krabbelte sie auf Händen und Knien weiter, um die Waffe zu erreichen. Soeben hatten ihre Fingerspitzen den Perlmuttgriff berührt, da zerrte Clara sie an ihrem Kleid zurück. Sie schubste Nora zur Seite und sprang über sie hinweg. Dann war sie im Zimmer und schnappte sich den Revolver.
»Wirklich beeindruckend, meine Liebe.« Clara atmete schwer. »Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
Ein lautes Krachen unterbrach sie. Die geschlossene Tür flog auf, Holzsplitter spritzten durch die Luft, und Stratham Younger platzte herein.
»Dr. Younger.« Clara Banwell stand mitten in Noras Wohnzimmer und zielte mit einem kleinen Revolver direkt auf meinen Bauch. »Wie angenehm, Sie zu sehen. Bitte, schließen Sie die Tür.«
Ungefähr vier Meter von mir entfernt lag Nora auf dem Boden. Ich sah eine Abschürfung an ihrer linken Wange, aber zum Glück kein Blut. »Sind Sie verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf.
Die Luft ausatmend, die ich unbewusst angehalten hatte, machte ich die Tür zu. »Und Sie, Mrs. Banwell. Wie geht es Ihnen heute Abend?«
Claras Mundwinkel zuckten unmerklich nach oben. Über und unter dem linken Auge war sie schlimm zerkratzt. »Gleich wird es mir besser gehen. Treten Sie auf den Balkon, Dr. Younger.«
Ich rührte mich nicht.
»Auf den Balkon«, wiederholte sie.
»Nein, Mrs. Banwell.«
»Wirklich? Soll ich Sie lieber da erschießen, wo Sie
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