Morddeutung: Roman (German Edition)
behaupten, dass man nicht wissen kann, ob Tiere ähnliche Empfindungen haben wie ein Mensch, doch keiner, der einmal den schieren Schrecken in den geweiteten Augen eines Pferdes gesehen hat, wird jemals wieder daran zweifeln können.
Da alle Blicke an dem hilflos baumelnden und strampelnden Tier hingen, bemerkte niemand aus der Menge, dass sich im dritten Stock des Gerüsts ein Träger bewegte. Dieser Träger war an einem Seil befestigt, das wiederum mit dem Kranhaken verbunden war. Bis jetzt hatte das Seil schlaff heruntergehangen und der Stahlbalken harmlos auf seinem Platz gelegen. Doch als der Haken immer weiter nach oben gezogen wurde, spannte sich schließlich das Seil, und plötzlich rollte der Stahlträger von den Holzbrettern und schwang durch die Luft. Da er an dem Kranhaken befestigt war, schoss er natürlich in Richtung Haken – mit anderen Worten, direkt auf George Banwell zu.
Banwell sah den tödlichen Träger gar nicht, der sich mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Luft bewegte. Nach einer leichten Drehung raste der Träger unerbittlich auf ihn zu wie ein gigantischer, auf seinen Magen zielender Speer. Hätte er Banwell getroffen, wäre er mit Sicherheit tot gewesen. Doch der Balken verfehlte ihn um dreißig Zentimeter. So viel Glück war nicht unbedingt untypisch für Banwell, allerdings war die Konsequenz, dass der Träger weitersegelte, direkt auf die Menge zu. Mehrere Leute schrien vor Angst, und ein gutes Dutzend Männer warfen sich zu Boden, um sich zu schützen.
Aber nur eine Person hatte wirklich Grund, sich fallen zu lassen: Miss Nora Acton. Der vier Meter lange Stahlträger schwang direkt auf sie zu. Doch Miss Acton schrie nicht, sie blieb reglos stehen. Ob es nun daran lag, dass sie der heransausende Balken hypnotisiert hatte, oder daran, dass sie nicht wusste, wohin, jedenfalls verharrte Miss Acton wie angewurzelt auf der Stelle und blickte entsetzt ihrem Tod ins Auge.
Younger packte sie an ihrem langen blonden Haar und zog sie mit einem – nicht besonders galanten – Ruck in seine Arme. Der Träger pfiff so knapp an ihnen vorbei, dass die beiden den Luftzug spürten, und schoss hinter ihnen hoch in die Luft.
»Au!«, rief Miss Acton.
»Verzeihung«, erwiderte Younger. Dann zog er sie ein zweites Mal an den Haaren, um in die andere Richtung auszuweichen.
»Au!« Miss Actons neuerlicher Ausruf kam deutlich gereizter aus ihrem Mund, während der Stahlträger auf dem Rückweg erneut an ihnen vorbeiflog und diesmal nur knapp ihren Hinterkopf verfehlte.
Banwell betrachtete den schwingenden Balken ungerührt. Mit einem Anflug von Abscheu beobachtete er, wie der Träger nach oben schnellte und in das Gerüst krachte, von dem aus seine Reise begonnen hatte. Die Konstruktion stürzte in sich zusammen, als wäre sie aus Zahnstochern gebaut, und Arbeiter, Werkzeug und Holzplanken flogen in alle Richtungen. Als sich der Staub gelegt hatte, gab nur noch das Pferd Geräusche von sich, das sich hilflos wiehernd über ihren Köpfen drehte. Banwell bedeutete dem Kranführer, die Stute herunterzulassen, und wies seine Leute mit kalter Wut in der Stimme an, den Schutt wegzuräumen.
»Bringen Sie mich bitte zurück ins Hotel«, sagte Miss Acton zu Younger.
Noch lange spazierten Leute bei der Baustelle herum, die ehrfürchtig den Schaden betrachteten und neu Hinzukommenden von den Ereignissen berichteten. Das Pferd war zum Kutscher gebracht worden, dem sich jetzt Detective Littlemore näherte. Der Detective hatte George Banwell wiedererkannt. »Na, wie geht’s denn dem armen Gaul? Was ist sie für eine Rasse? Ein Percheron?«
»Nur zur Hälfte.« Der Kutscher bemühte sich nach Kräften, das völlig verängstigte Tier zu beruhigen. »Cream ist der Fachausdruck.«
»Auf jeden Fall ist sie wunderschön.«
»Das stimmt.« Der Kutscher streichelte die Nüstern der Stute.
»Wieso hat sie sich vorhin nur so aufgebäumt? Hat wahrscheinlich was gesehen, oder?«
»Wenn, dann hat er was gesehen.«
»Wie das?«
»Sie hat überhaupt nichts gemacht«, murrte der Mann. »Er war schuld. Er wollte sie mit dem Zügel anhalten. Und das geht bei einem Wagenpferd nicht.« Er redete mit der Stute. »Wollte dich anhalten, ich weiß schon. Weil er nämlich Angst hatte.«
»Angst? Wovor?«
»Fragen Sie ihn doch selbst. Obwohl der sonst nicht so leicht einen Schreck kriegt. Als hätte er den Teufel persönlich gesehen, so ist der zusammengefahren.«
»Was sagt man dazu?« Littlemore machte sich auf
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