Morddeutung: Roman (German Edition)
Begleitung ihrer Dienerin oder eines Polizeibeamten. Warum fragen Sie? Besteht Gefahr?«
»Wahrscheinlich nicht.« Mr. Hugel hatte Littlemore mitgeteilt, dass der Mörder nicht wusste, wo sich Miss Acton aufhielt. Trotzdem hatte der Detective ein ungutes Gefühl. Der ganze Fall war ja irgendwie schräg. Eine Tote, über die niemand was wusste, Leute, die das Gedächtnis verloren, Chinesen, die davonrannten, Leichen, die aus dem Autopsieregal verschwanden. »Kann aber bestimmt nicht schaden, wenn ich mich mal umschaue.«
Mit Younger an seiner Seite betrat der Detective das Hotel. Littlemore zündete sich eine Zigarette an, während sie zusahen, wie die zierliche Miss Acton die runde Kolonnadenhalle durchquerte. Ein Mann hätte seinen Zimmerschlüssel einfach auf die Theke gelegt und wäre gegangen, doch Miss Acton wartete geduldig, bis sie an der Reihe war. Dem Detective fiel inzwischen auf, dass ungefähr die Hälfte der Männer im Saal der Beschreibung des Coroners entsprachen.
Vor allem ein Mann jedoch zog Littlemores Aufmerksamkeit auf sich. Er wartete am Aufzug. Er war groß und schwarzhaarig, trug eine Brille und hatte eine Zeitung in den Händen. Littlemore hatte keine gute Sicht auf sein Gesicht, doch der Schnitt seines Anzugs hatte irgendwie etwas Ausländisches. Tatsächlich war es die Zeitung, die die Neugier des Detectives weckte. Der Mann hielt sie ein wenig höher als nötig. Versuchte er, sein Gesicht zu verbergen? Inzwischen hatte Miss Acton den Schlüssel abgegeben und steuerte wieder auf den Ausgang zu. Der Mann warf einen verstohlenen Blick in ihre Richtung – oder vielleicht sogar auf den Detective -, dann vergrub er das Gesicht wieder in seiner Lektüre. Die Aufzugtür öffnete sich, und der Mann stieg als Einziger ein.
Miss Acton beachtete weder den Arzt noch den Detective, als sie auf dem Weg hinaus an ihnen vorbeikam. Dennoch folgte ihr Younger hinaus und brachte sie zurück zu ihrer Droschke.
Littlemore blieb in der Halle. Es hatte nichts zu bedeuten, sagte er sich. Fast alle Männer in der Lobby hatten zu Miss Acton aufgeblickt, als sie ohne Begleitung über den Marmorboden schwebte. Dennoch behielt Littlemore für alle Fälle den Pfeil über dem Aufzug im Auge, den der Mann betreten hatte. Der Pfeil bewegte sich langsam ruckend in Richtung der höheren Zahlen. Doch der Detective sah nicht mehr, wo der Pfeil zum Stillstand kam. Er war noch in Bewegung, als Littlemore von draußen einen durchdringenden Schrei hörte.
Es war kein menschlicher Schrei. Es war das schrille Wiehern eines gequälten Pferdes. Dieses Pferd gehörte zu einem Wagen, der gerade eine Baustelle an der Forty-second Street verlassen hatte, wo das Stahlgerüst eines neuen achtstöckigen Geschäftsgebäudes errichtet wurde. Der äußerst elegant gekleidete Lenker des Wagens trug einen Zylinder und hatte einen feinen Stock auf den Knien liegen. Es war Mr. George Banwell.
Im Jahr 1909 konkurrierten auf jeder Hauptstraße von New York noch die Pferde mit den Automobilen. Aber im Grunde war der Kampf schon verloren. Die ruckartig anfahrenden, laut hupenden Kraftwagen waren schneller und beweglicher als jeder Einspänner. Außerdem setzte das Automobil der Umweltverschmutzung ein Ende – ein Begriff, mit dem man damals den Pferdemist bezeichnete, der die Luft ab Mittag mit seinem durchdringenden Gestank erfüllte und die belebteren Verkehrsstraßen nahezu unpassierbar machte. Obgleich sich George Banwell nicht weniger für Kraftwagen begeisterte als andere Herren, war er doch im Grunde seines Herzens ein Pferdeliebhaber. Er war mit ihnen aufgewachsen und nicht bereit, sie einfach aufzugeben. Ja, er bestand sogar darauf, seinen Wagen selbst zu lenken, während sein Kutscher tatenlos dabeisaß.
Banwell hatte den größten Teil des Vormittags auf einem Baugrundstück an der Canal Street verbracht, wo er ein weit umfangreicheres Projekt leitete. Um halb zwölf war er dann hinaus zur Baustelle an der Forty-second Street zwischen der Fifth und der Madison Avenue gefahren, keinen halben Block vom Hotel Manhattan entfernt. Nachdem er dort die Arbeit seiner Leute besichtigt hatte, fuhr Banwell weiter zum Hotel, um sich mit dem Bürgermeister zu treffen. Doch kurz nachdem er die Zügel zur Hand genommen hatte, riss er sie mit einem brutalen Ruck zurück. Die bedauernswerte Stute, der die Trense tief ins Maul getrieben wurde, blieb stehen und schrie auf. Banwell zeigte sich von diesem Schrei völlig unbeeindruckt. Er schien ihn
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