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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Übeltäterin. Ich habe darauf bestanden, dass er Mr. Banwell zur Rede stellt. Eine Woche später hat er mir erzählt, dass er es getan hat. Mr. Banwell hat die Vorwürfe mit größter Entrüstung von sich gewiesen, so mein Vater. Bestimmt hatte er dabei ziemlich genau den gleichen Gesichtsausdruck wie gerade eben. Er hat nur zugegeben, dass er in meiner Gegenwart über das neue Häuschen gesprochen hat, und behauptet, dass ich die niederträchtigen Schlüsse selbst gezogen hätte, und zwar aufgrund … aufgrund meiner Lektüre. Mein Vater hat es vorgezogen, Mr. Banwell zu glauben. Ich hasse ihn.«
    »Mr. Banwell?«
    »Meinen Vater.«
    »Miss Acton, Sie haben Ihre Stimme vor drei Jahren verloren. Aber gerade haben Sie mir einen Vorfall geschildert, der sich letztes Jahr ereignet hat.«
    »Vor drei Jahren hat er mich geküsst.«
    »Ihr Vater?«
    »Was für eine widerliche Idee.« Miss Acton geriet wieder in Rage. »Nein, Mr. Banwell.«
    »Sie waren damals vierzehn?«
    »Hatten Sie in der Schule irgendwelche Probleme mit Mathematik, Dr. Younger?«
    »Fahren Sie fort, Miss Acton.«
    »Es war am Unabhängigkeitstag. Meine Eltern hatten die Banwells erst einige Monate zuvor kennengelernt, doch mein Vater und Mr. Banwell waren bereits die dicksten Freunde. Mr. Banwells Leute haben unser Haus umgebaut. Wir hatten gerade drei Wochen mit ihnen auf dem Land verbracht, während die letzten Arbeiten durchgeführt wurden. Clara war furchtbar lieb zu mir. Sie ist die stärkste, intelligenteste Frau, der ich je begegnet bin, Dr. Younger. Und auch die schönste. Haben Sie Lina Cavalieri als Salomé gesehen?«
    »Nein.« Die weithin für ihre Schönheit berühmte Miss Cavalieri hatte die Rolle letzten Winter im Manhattan Opera House gegeben, aber es war mir nicht möglich gewesen, von Worcester aus anzureisen.
    »Clara sieht genauso aus wie sie. Sie war früher auch Bühnenkünstlerin, das ist schon mehrere Jahre her. Mr. Gibson hat ein Bild von ihr gemacht. Auf jeden Fall, Mr. Banwell hat damals gerade in der Innenstadt einen seiner Riesenbauten errichtet – das Hanover, glaube ich. Wir hatten vereinbart, dass wir aufs Dach hochfahren, um das Feuerwerk zu genießen. Aber meine Mutter wurde krank – sie wird immer krank – und konnte deswegen nicht mitkommen. Aus irgendeinem Grund war dann mein Vater im letzten Moment ebenfalls verhindert. Ich weiß nicht, warum. Ich glaube, er war auch krank; in dem Sommer damals machte gerade ein Fieber die Runde. Jedenfalls hat Mr. Banwell angeboten, mich aufs Dach zu begleiten, da ich mich schon so darauf gefreut hatte.«
    »Nur Sie und er?«
    »Ja. Er hat mich in seiner Kutsche gefahren. Es war Nacht. Er hat die Pferde über den Broadway kantern lassen. Ich erinnere mich noch an den heißen Wind im Gesicht. Wir haben zusammen den Aufzug genommen. Ich war sehr nervös; es war meine erste Fahrt mit einem Aufzug. Ich konnte das Feuerwerk gar nicht mehr erwarten, aber als dann die ersten Böller geknallt haben, hatte ich furchtbare Angst. Vielleicht habe ich sogar aufgeschrien. Dann hat er mich plötzlich mit den Armen umschlungen. Ich weiß noch heute, wie es sich angefühlt hat, als er mich … meinen Oberkörper an sich gepresst hat. Dann hat er mir den Mund auf die Lippen gedrückt.« Miss Acton zog eine Grimasse, als wollte sie ausspucken.
    »Und dann?«
    »Ich habe mich von ihm losgerissen, aber ich konnte nirgends hin. Ich wusste nicht, wie ich vom Dach fliehen sollte. Er hat mir Zeichen gemacht, dass ich mich beruhigen soll, dass ich still sein soll. Er hat gesagt, dass es unser Geheimnis bleibt und dass wir uns jetzt einfach das Feuerwerk anschauen. Und das haben wir dann gemacht.«
    »Haben Sie jemandem davon erzählt?«
    »Nein. Damals habe ich meine Stimme verloren, in dieser Nacht. Alle dachten, ich hätte mich mit dem Fieber angesteckt. Vielleicht war es sogar so. Am nächsten Morgen war die Stimme wieder da, genau wie diesmal. Aber bis heute habe ich noch niemandem von diesem Vorfall erzählt. Danach habe ich versucht, mich von Mr. Banwell so gut es ging fernzuhalten.«
    Ein langes Schweigen folgte. Sie war offensichtlich ans Ende ihrer unmittelbar bewussten Erinnerungen gelangt. »Denken Sie an gestern, Miss Acton. Können Sie sich inzwischen wieder an was erinnern?«
    »Nein«, erwiderte sie still. »Tut mir leid.«
    Ich bat sie um Erlaubnis, das Gehörte Dr. Freud mitzuteilen. Sie willigte ein. Dann stellte ich ihr für morgen meinen Besuch in Aussicht, um unsere Unterhaltung

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