Morddeutung: Roman (German Edition)
den Rückweg zum Hotel.
Zur gleichen Zeit stand im obersten Stock des Hotel Manhattan C. G. Jung auf seinem Balkon und beobachtete die Szenerie. Er hatte das außerordentliche Geschehen auf der Baustelle genau verfolgt. Doch dieses Geschehen hatte ihn weniger erschreckt als vielmehr mit einer tiefen, erregenden Euphorie erfüllt, wie er sie in seinem ganzen Leben bisher höchstens ein- oder zweimal erlebt hatte. Er zog sich in sein Zimmer zurück und setzte sich benommen auf den Boden, den Rücken gegen das Bett gelehnt. Er sah Gesichter, die niemand sonst sah, und hörte Stimmen, die kein anderer hörte.
KAPITEL NEUN
Oben in Miss Actons Räumen angelangt, gebärdete sich Mrs. Biggs wie eine Verrückte. Nacheinander forderte sie Miss Acton auf, sich hinzulegen, sich aufzusetzen und herumzugehen, um wieder »Farbe ins Gesicht« zu bekommen. Miss Acton schenkte diesen Befehlen keinerlei Beachtung. Sie steuerte direkt auf die kleine Küche zu, mit der ihre Suite ausgestattet war, und bereitete eine Kanne Tee zu. Mrs. Biggs riss protestierend die Arme hoch und erklärte, dass sie für den Tee zuständig war. Die alte Frau konnte sich erst ein wenig beruhigen, als Miss Acton sie auf einen Stuhl gesetzt und ihr die Hände geküsst hatte.
Das Mädchen hatte eine unheimliche Fähigkeit, nach überwältigenden Erlebnissen die Fassung wiederzugewinnen oder eine Beherrschtheit vorzutäuschen, die nicht der Realität entsprach. Sie machte den Tee fertig und reichte Mrs. Biggs eine dampfende Tasse.
»Sie wären jetzt tot, Miss Nora«, ächzte die Dienerin. »Sie wären tot, wenn der junge Herr Doktor nicht gewesen wäre.«
Miss Acton legte ihre Hand auf die der Frau und drängte sie, ihre Tasse zu nehmen. Als dies geschehen war, bat das Mädchen die Dienerin, uns allein zu lassen, weil sie unter vier Augen mit mir sprechen wollte. Nach etlichen weiteren Lamentos ließ sich Mrs. Biggs schließlich dazu überreden, zu verschwinden.
Als wir allein waren, bedankte sich Miss Acton bei mir.
»Warum haben Sie die Dienerin weggeschickt?«, erkundigte ich mich.
»Ganz einfach«, erwiderte das Mädchen. »Sie wollten doch wissen, warum ich vor drei Jahren meine Stimme verloren habe. Ich möchte es Ihnen erzählen.«
Die Teekanne in ihren Händen begann zu zittern. Und als sie einschenken wollte, verfehlte sie die Tasse. Sie stellte die Kanne ab und verklammerte die Finger ineinander. »Das arme Pferd. Wie konnte er nur so was machen?«
»Das ist doch nicht Ihre Schuld, Miss Acton.«
»Was reden Sie da eigentlich?« Sie funkelte mich wütend an. »Wieso soll ich daran schuld sein?«
»So war das nicht gemeint. Es hat sich nur so angehört, als würden Sie sich Vorwürfe machen.«
Miss Acton trat ans Fenster und zog den Vorhang zurück. Dahinter kam eine Glastür auf einen Balkon zum Vorschein, von dem man einen weiten Blick über die Stadt hatte. »Wissen Sie, wer das war?«
»Nein.«
»Das war George Banwell. Claras Mann. Der Freund meines Vaters.« Der Atem des Mädchens wurde unregelmäßig. »Es war auf seinem Landsitz, unten am See. Er hat mir einen Antrag gemacht.«
»Bitte legen Sie sich hin, Miss Acton.«
»Warum?«
»Das gehört zur Behandlung.«
»Gut, wenn es unbedingt sein muss.«
Als sie ihren Platz auf dem Sofa eingenommen hatte, fuhr ich fort. »Mr. Banwell hat Ihnen einen Heiratsantrag gemacht? Sie waren doch damals erst vierzehn.«
»Ich war sechzehn, Dr. Younger, und es war kein Heiratsantrag.«
»Was für ein Antrag war es denn?«
»Er wollte … er wollte …« Sie verstummte.
»Geschlechtsverkehr mit Ihnen haben?« Es ist immer heikel, vor jungen Patientinnen sexuelle Aktivitäten zu erwähnen, weil man nicht sicher wissen kann, wie umfassend sie aufgeklärt sind. Aber es ist noch schlimmer, wenn man durch übertriebene Vorsicht das schädliche Schamgefühl noch verstärkt, das ein Mädchen möglicherweise mit solchen Erfahrungen verbindet.
»Ja«, antwortete sie. »Wir waren zu Besuch in seinem Landhaus, meine ganze Familie. Er und ich haben einen Spaziergang um den Teich gemacht. Er hat mir erklärt, dass er in der Nähe noch ein Häuschen gekauft hat, wo wir zwei allein sein könnten. Niemand würde etwas erfahren.«
»Was haben Sie getan?«
»Ich habe ihm eine Ohrfeige gegeben und bin davongelaufen. Später habe ich es meinem Vater erzählt, aber er hat sich nicht auf meine Seite gestellt.«
»Hat er Ihnen nicht geglaubt?«, fragte ich.
»Er hat so getan, als wäre ich die
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