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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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nicht einmal gehört zu haben. Wie gebannt auf einen Punkt starrend, der einen knappen Block vor ihm lag, zerrte er die Trense immer tiefer in den Kiefer des Pferdes – zum großen Entsetzen des Kutschers.
    In dem vergeblichen Bemühen, das Zaumzeug abzuschütteln, warf die Stute den Kopf hin und her und stellte sich schließlich in ihrer Not auf die Hinterbeine, um gleichzeitig das markerschütternde, gepeinigte Wiehern auszustoßen, das Littlemore und alle anderen Leute auf der Straße gehört hatten. Sie kam wieder nach unten, bäumte sich aber sogleich erneut auf, noch wilder diesmal, und der ganze Wagen geriet ins Wanken. Banwell und sein Kutscher wurden herausgeschleudert wie Matrosen aus einem kenternden Boot. Laut polternd kippte der Wagen um und riss das Pferd mit sich.
    Der Kutscher stand als Erster wieder. Er versuchte, seinem Herrn hochzuhelfen, doch Banwell stieß ihn heftig von sich und klopfte sich selbst den Staub von Knien und Ellbogen. Eine Menschenmenge hatte sich um sie gebildet. Schon ertönte das Hupen ungeduldiger Kraftfahrer. Offensichtlich war Banwell wieder aus seiner Erstarrung erwacht. Er war nicht der Mann, der es sich gefallen ließ, von einem Pferd abgeworfen zu werden; und aus einem Wagen geschleudert zu werden war völlig unerhört. In seinen Augen loderte ein gefährliches Feuer, als er die Kraftfahrer, die gaffende Menge und vor allem das verwirrte, am Boden liegende Pferd anstarrte, das vergeblich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. »Meine Pistole«, sagte er mit eisiger Stimme zum Kutscher. »Gib mir meine Pistole.«
    »Aber Sie können sie doch nicht einfach erschießen, Sir«, protestierte der Kutscher, der neben der Stute in die Hocke ging und ihre Hufe aus einem Gewirr von Gurten löste. »Sie hat sich nichts gebrochen. Bloß ein bisschen verfangen, das ist alles. So, jetzt geht’s wieder. Ist ja schon gut.« Er sprach jetzt mit dem Pferd und half ihm auf die Beine. »War ja nicht deine Schuld.«
    Die freundlichen Worte des Kutschers hatten eine denkbar schlechte Wirkung auf Banwell. »Nicht ihre Schuld, was?«, fauchte er. »Sie bäumt sich auf wie eine ungezähmte Mähre, und es ist nicht ihre Schuld?« Er packte die Kandare und riss den Kopf des Pferdes grob zu sich herum, um ihm in die Augen zu schauen. In unvermindert frostigem Ton wandte er sich an den Kutscher. »Wie ich sehe, hast du ihr nicht mal beigebracht, den Kopf unten zu halten. Na schön, dann muss sie es eben von mir lernen.«
    Banwell zerrte die Wagenstange aus dem Zaumzeug, packte die Zügel und schwang sich auf den bloßen Rücken des Pferdes. Er trieb es zurück auf die Baustelle, bis er zu dem großen baumelnden Haken des Krans kam, der mitten auf dem Grundstück himmelwärts ragte. Banwell nahm den Haken mit beiden Händen und befestigte ihn an dem straff um den Bauch des Pferdes geschlungenen Gurt. Dann sprang er ab und brüllte hinauf zum Kranführer: »Du da, zieh sie rauf! Du da oben im Kran, zieh sie rauf, sag ich. Hörst du mich nicht? Zieh sie hoch!«
    Der erstaunte Kranführer reagierte nur zögernd. Schließlich legte er den Gang der riesigen Maschine ein. Das lange Kabel wurde straff, der Haken spannte sich an der Halterung. Das Pferd scharrte unruhig, als es den unangenehmen Zug spürte. Dann passierte einen Moment lang gar nichts.
    »Hiev sie hoch, du Saukerl«, brüllte Banwell seinen Angestellten an. »Wenn du sie nicht gleich hochhievst, kommst du heute Abend ohne Arbeit zu deiner Frau nach Hause!«
    Wieder bediente der Kranführer die Schalter. Mit einem Ruck hob sich das Pferd vom Boden. Als sie keine Erde mehr unter den Hufen hatte, wurde die Stute von abgrundtiefer Panik erfasst. Schreiend strampelte sie nach allen Seiten, doch sie drehte sich nur wild in der Luft, gehalten von dem starken Kranhaken.
    »Lasst sie sofort runter!«, rief eine junge Frauenstimme voller Zorn und Qual. Es war Miss Acton. Sie hatte das Geschehen verfolgt und war die Forty-second Street heruntergerannt. Jetzt stand sie direkt vor der Menge. Younger war gleich neben ihr und Littlemore einige Reihen weiter hinten. Wieder rief sie: »Lasst sie runter! Irgendjemand muss ihn aufhalten!«
    »Hoch mit ihr«, befahl Banwell. Er hatte die Stimme des Mädchens gehört und ihr einen Moment sogar direkt in die Augen geschaut. Dann wandte er sich wieder dem Pferd zu. »Höher.«
    Der Anweisung folgend, hievte der Kranführer die Stute immer höher hinauf: fünf, zehn, fünfzehn Meter über den Boden. Philosophen

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