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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Psychoanalytikers ausgefüllt.
    Schon vor dem eigentlichen Beginn hatte ich versagt. Das Mädchen hatte die Analyse abgelehnt, und es war mir nicht gelungen, sie umzustimmen. Nein, ich selbst hatte die Ablehnung provoziert, weil ich sie zu sehr bedrängt hatte, noch bevor die Grundlage für die Analyse geschaffen war. In Wahrheit war ich einfach nicht darauf vorbereitet gewesen, dass sie wieder sprechen konnte. Freuds Vermutung, dass sie ihre Stimme über Nacht wiedererlangen könnte, hatte ich einfach völlig vergessen. Ihre Stimme hätte ein unverhoffter Segen sein sollen, die günstigste nur denkbare Entwicklung der Behandlung. Ich hatte mir schon ausgemalt, ihr als geduldiger und unendlich einfühlsamer Arzt zu begegnen. Stattdessen hatte ich mich von ihrem Widerstand in die Defensive drängen lassen wie ein blutiger Anfänger.
    Was sollte ich jetzt Freud erzählen?

     
    Beim Betreten des Hotel Manhattan kam Detective Littlemore an einem jungen Herrn vorbei, der einer jungen Dame in eine Droschke half. Beide repräsentierten für Littlemore eine Welt, zu der er keinen Zugang hatte. Sie sahen blendend aus und waren mit der Art von Kleidern herausstaffiert, die sich nur bessere Leute leisten konnten. Der junge Mann war groß und dunkelhaarig mit ausgeprägten Wangenknochen, während die junge Dame geradezu einem Engel glich, und zwar in einem größeren Ausmaß, als es Littlemore auf Erden für möglich gehalten hätte. Und mit welch fließend leichter Bewegung der Mann das Mädchen in die Droschke hob … Littlemore wusste genau, das ihm selbst eine solche Leichtigkeit fehlte.
    Nichts davon machte dem Detective das Geringste aus. Er beneidete den jungen Herrn nicht, und das Dienstmädchen Betty gefiel ihm besser als die engelhafte junge Dame. Aber er wollte zu gerne lernen, sich so zu bewegen wie der Herr. Wie das ging, konnte er bestimmt herausfinden und es dann nachmachen. Er stellte sich vor, Betty auf diese Art in eine Droschke zu heben – wenn er jemals dazu kam, eine Droschke zu nehmen, noch dazu in Begleitung von Betty.
    Eine Minute später, nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Empfangschef, hastete Littlemore wieder hinaus, auf den jungen Mann zu, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt, starrte er dem sich entfernenden Wagen mit einer derart verbissenen Konzentration nach, dass Littlemore fast der Gedanke beschlich, mit dem Herrn könnte etwas nicht stimmen.
    »Sie sind Dr. Younger, nicht wahr?«, fragte der Detective. Keine Antwort. »Alles in Ordnung?«
    »Pardon?«, erwiderte der junge Mann.
    »Sie sind Younger, oder?«
    »Leider.«
    »Ich bin Detective Littlemore. Der Bürgermeister schickt mich. War das Miss Acton in der Droschke da?« Doch wieder bemerkte der Detective, dass sein Gegenüber nicht zugehört hatte.
    »Bitte verzeihen Sie mir«, sagte Younger. »Wie war noch mal Ihr Name?«
    Littlemore stellte sich erneut vor. Er erklärte Younger, dass Miss Actons Angreifer am Sonntagabend ein anderes Mädchen ermordet hatte und dass die Polizei immer noch keine Zeugen hatte. »Kann sie sich inzwischen an was erinnern, Doc?«
    Younger schüttelte den Kopf. »Miss Acton hat zwar ihre Stimme wiedergefunden, aber immer noch keine Erinnerung an den Vorfall.«
    »Kommt mir ziemlich komisch vor, die ganze Sache«, meinte der Detective. »Gibt’s das oft, dass Leute das Gedächtnis verlieren?«
    »Nein, aber es kann schon mal passieren, vor allem nach einem Erlebnis wie dem von Miss Acton.«
    »Hoppla, die kommen ja wieder zurück.«
    So war es tatsächlich. Miss Actons Droschke hatte am Ende des Blocks gewendet und näherte sich nun wieder dem Hotel. Als der Wagen anhielt, erklärte Miss Acton Younger, dass Mrs. Biggs vergessen hatte, den Zimmerschlüssel beim Empfang abzugeben.
    »Wenn Sie wollen, bringe ich ihn für Sie rein.« Younger streckte die Hand aus.
    »Danke, aber dazu bin ich selbst imstande.« Miss Acton hüpfte ohne Hilfe aus der Droschke und rauschte an Younger vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Younger ließ sich nichts anmerken, aber Littlemore war klar, dass es sich hier um eine Abfuhr handelte, und der Doktor tat ihm leid. Dann fiel ihm etwas anderes ein.
    »Sagen Sie mal, Doc, lassen Sie Miss Acton einfach so im Hotel rumlaufen – ganz allein, meine ich?«
    »In dieser Angelegenheit habe ich wenig zu sagen, Detective. Eigentlich gar nichts. Aber nein, ich glaube, sie war bis jetzt praktisch die ganze Zeit entweder in

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