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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Erdgeschoss war ein schäbiges Fahrradgeschäft, dessen Besitzer ein Weißer war. Alle anderen Menschen im Haus und darum herum – alte Frauen, die geschäftig ein und aus gingen, ein Mann auf dem Treppenabsatz, der eine lange Pfeife rauchte, die Gesichter, die aus den Fenstern weiter oben spähten – waren Chinesen.
    Als sich der Detective an den Aufstieg der dritten unbeleuchteten Treppe machte, trat ein kleiner Mann in langer Tunika aus dem Schatten und stellte sich ihm in den Weg. Der Mann hatte einen dünnen, flaumigen Bart, einen Zopf auf dem Rücken und Zähne in der Farbe von frischem Rost. Littlemore blieb stehen. »Sie gehen falsch hier«, sagte der Chinese, ohne sich vorzustellen. »Restaurant unten, erste Stock.«
    »Ich suche nicht das Restaurant«, antwortete der Detective. »Ich suche Mr. Chong Sing. Wohnt im dritten Stock. Kennen Sie ihn?«
    »Nein.« Der Chinese vertrat Littlemore noch immer den Weg. »Kein Chong Sing oben.«
    »Soll das heißen, dass er weggegangen ist oder dass er nicht hier wohnt?«
    »Kein Chong Sing oben«, wiederholte der Chinese. Er drückte Littlemore die Fingerspitzen an die Brust. »Sie gehen.«
    Ohne ein weiteres Wort drängte sich Littlemore an dem Mann vorbei und stieg weiter die enge Treppe hinauf, die unter seinen Füßen knarzte. Fettiger Fleischgeruch begleitete ihn. Als er den verrauchten Gang im dritten Stock betrat – fensterlos und dunkel, obwohl es ein heller Vormittag war -, entdeckte er Augen, die ihn aus mehreren Türspalten beobachteten. Bei Apartment 4C zeigte sich niemand. Littlemore glaubte zu hören, dass jemand die Hintertreppe hinunterrannte. Am Anfang hatte das Aroma von gebratenem Fleisch den Appetit des Detectives angeregt; doch hier in den stickigen oberen Stockwerken hatte es sich mit Opiumschwaden vermischt, und ihm wurde übel.

     
    Bei seiner Ankunft in der City Hall erfuhr der Bürgermeister von Mrs. Neville, dass gerade Mr. Banwell am Apparat war. McClellan ließ ihn durchstellen.
    »George«, meldete sich George Banwell, »George hier.«
    »Heiliger Georg, tatsächlich«, antwortete George McClellan. Diese Begrüßung pflegten sie unverändert seit zwanzig Jahren, seit sie als Jungmitglieder des Manhattan Club damit begonnen hatten.
    »Wollte nur durchgeben, dass ich Acton gestern Abend erreicht habe«, sagte Banwell. »Hab ihm die schreckliche Sache mitgeteilt. Er reist so schnell wie möglich an. Wird schätzungsweise gegen Mittag im Hotel sein. Ich treffe mich dort mit ihm.«
    »Ausgezeichnet, ich komme auch hin.«
    »Hat sich Nora inzwischen an was erinnert?«
    »Nein«, antwortete der Bürgermeister. »Aber der Coroner hat einen Verdächtigen. Dich.«
    »Mich?«, rief Banwell. »Hat mir von Anfang an nicht gefallen, der kleine Stinker.«
    »Das beruht anscheinend auf Gegenseitigkeit.«
    »Was hast du ihm gesagt?«
    »Ich hab ihm gesagt, dass du es nicht warst«, erwiderte McClellan.
    »Was ist mit der Leiche von Elizabeth?«, fragte Banwell. »Riverford bombardiert mich mit einem Telegramm nach dem anderen.«
    »Die Leiche wurde gestohlen, George.«
    »Was?«
    »Du weißt doch, was ich mit dem Leichenschauhaus für Schwierigkeiten habe. Ich hoffe, dass ich sie wiederkriege. Kannst du Riverford noch einen Tag hinhalten?«
    »Hinhalten? Seine Tochter wurde ermordet!«
    »Kannst du es versuchen?«
    »Zum Henker«, knurrte Banwell. »Ich seh zu, was ich machen kann. Ach übrigens, wer sind eigentlich diese … Spezialisten , die sich um Nora kümmern?«
    »Hab ich das nicht erwähnt? Es sind Therapeuten. Anscheinend können sie Amnesie einfach mit Reden heilen. Faszinierende Sache, wie ich finde. Sie bringen die Patientin dazu, ihnen die verschiedensten Sachen zu erzählen.«
    »Was für Sachen denn?«
    »Ach, alles Mögliche«, antwortete McClellan.

     
    Der Anweisung des Bürgermeisters folgend, fuhr Coroner Hugel nach Hause. Er bewohnte die oberen zwei Stockwerke eines kleinen Holzhauses an der Warren Street. Dort legte er sich auf sein klobiges Bett, ohne jedoch zu schlafen. Das Licht war zu hell, und die Rufe der Lastwagenfahrer waren zu laut, auch wenn er sich ein Kissen auf den Kopf drückte.
    Das Haus, in dem Hugel lebte, lag am äußeren Rand des Market District in Lower Manhattan. Als er die Räume gemietet hatte, war der Bezirk ein angenehmes Wohnviertel gewesen. Doch inzwischen war alles zugebaut mit Lagerhallen für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Fabriken. Hugel war trotzdem nicht umgezogen. Mit dem Gehalt eines

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