Morddeutung: Roman (German Edition)
verdrängte Erinnerungen wachrufen kann. Und auch ich hatte diese Technik bei Priscilla angewandt. Möglicherweise war auch Miss Actons Amnesie für diese Form der Behandlung zugänglich. »Wären Sie bereit, etwas Ähnliches noch einmal zu versuchen?«, fragte ich.
»Es hat mir Angst gemacht.«
»Das wird wahrscheinlich wieder so sein.«
Sie zögerte, dann nickte sie. Ich trat zu ihr und streckte die Hand aus. Sie nestelte an ihrem Schal herum. Ich gab ihr zu verstehen, dass das nicht nötig war, dass ich sie ebenso gut am Kopf berühren konnte. Sie wirkte überrascht. Ich erklärte ihr, dass die Berührung der Stirn eine von Dr. Freuds Standardmethoden für das Auslösen von Erinnerungen war. Mit leicht zweifelndem Gesicht forderte sie mich auf anzufangen. Langsam legte ich ihr die Hand auf die Stirn. Sie reagierte nicht. Ich fragte sie, ob ihr irgendwas durch den Kopf gegangen war.
»Nur dass Ihre Hand sehr kalt ist, Dr. Younger.«
»Tut mir leid, Miss Acton, aber wie es scheint, müssen wir uns wieder aufs Reden verlegen. Die Berührung hat nichts bewirkt.« Ich setzte mich zurück auf meinen Platz. Sie schien fast ein wenig beleidigt. »Können Sie mir eine Frage beantworten?«, fuhr ich fort. »Sie haben mir erzählt, dass Mrs. Banwells Rücken – ihr nackter Rücken – so weiß war wie etwas anderes, was Sie kennen. Aber was, haben Sie nicht gesagt.«
»Und das wüssten Sie gern?«
»Deswegen frage ich, ja.«
»Raus.« Sie setzte sich auf.
»Pardon?«
»Raus!«, rief sie und warf die Zuckerdose nach mir. Dann stand sie auf und machte das Gleiche mit ihrer Tasse samt Untertasse. Aber eigentlich warf sie sie nicht, sondern schleuderte sie mit aller Kraft. Zum Glück richteten die beiden Gegenstände keinen Schaden an. Die Untertasse flog links an mir vorbei, während die Tasse rechts von mir durch die Luft segelte und beim Aufprall an der Wand in mehrere Scherben zerbrach. Als Nächstes griff Miss Acton nach der Teekanne.
»Tun Sie das nicht«, mahnte ich.
»Ich hasse Sie.«
Auch ich erhob mich jetzt. »Sie hassen nicht mich, Miss Acton. Sie hassen Ihren Vater, weil er Sie an Banwell verschachert hat – im Austausch gegen Banwells Frau.«
Wenn ich gedacht hatte, dass das Mädchen, in Tränen aufgelöst, auf dem Sofa zusammenbrechen würde, so sah ich mich getäuscht. Wie eine Wildkatze sprang sie auf mich zu und holte mit der Teekanne aus. Sie traf mich an der linken Schulter. Angesichts ihrer Zierlichkeit verfügte sie über eine beeindruckende Kraft. Der Deckel der Kanne sprang davon, und über meinen Arm ergoss sich kochend heißes Wasser. Es tat ziemlich weh – das siedende Wasser, nicht der Schlag mit der Kanne -, aber ich blieb reglos und zeigte keine Reaktion. Das erzürnte sie anscheinend noch mehr. Wieder holte sie mit der Kanne aus, nur dass sie es diesmal auf meinen Kopf abgesehen hatte.
Ich war so viel größer als sie, dass ich nur leicht zurückweichen musste. Die Teekanne verfehlte ihr Ziel, und ich packte Miss Acton am Arm. Ihr Schwung riss sie herum, sodass sie mir den Rücken zukehrte. Ich drückte ihre Arme fest gegen ihre Taille und ließ ihr keinen Bewegungsspielraum.
»Lassen Sie mich los«, rief sie. »Wenn Sie mich nicht loslassen, schreie ich.«
»Und dann? Wollen Sie dann erzählen, dass ich Sie überfallen habe?«
»Ich zähle bis drei«, entgegnete sie erbittert. »Lassen Sie mich los, oder ich schreie. Eins, zwei, dr…«
Ich packte sie am Hals, und das Wort erstarb ihr auf den Lippen. Das hätte ich natürlich nicht tun dürfen, aber ich war aufgebracht. Doch mit meiner übereilten Handlungsweise hatte ich nicht nur ihren Schrei erstickt, sondern auch noch eine unerwartete Wirkung erzielt. Alle Spannung löste sich aus ihrem Körper. Die Teekanne fiel ihr aus der Hand. Ihre weit aufgerissenen Augen wurden orientierungslos und huschten rasch hin und her. Ich wusste nicht, was merkwürdiger war: ihr Angriff auf mich oder diese plötzliche Verwandlung. Ich ließ sie sofort los.
»Ich hab ihn gesehen«, flüsterte sie.
»Können Sie sich erinnern?«
»Ich hab ihn gesehen«, wiederholte sie. »Jetzt ist es wieder weg. Ich glaube, ich war gefesselt. Ich konnte mich nicht bewegen. Ach, warum kann ich mich nur nicht erinnern?« Sie drehte sich zu mir. »Machen Sie das noch mal.«
»Was?«
»Was Sie gerade gemacht haben. Dann erinnere ich mich bestimmt.«
Langsam, ohne den Blick von mir zu nehmen, löste sie ihren Schal. Auf ihrem Hals waren noch immer
Weitere Kostenlose Bücher