Morddeutung: Roman (German Edition)
hier bin?« Brill klang alles andere als gelassen.
Bürgermeister George McClellan wohnte an der Park Row in einem der vornehmen neoklassizistischen Stadthäuser am nördlichen Washington Square, unweit der Fifth Avenue. Als er am Mittwochmorgen früh das Haus verließ, wurde McClellan von Coroner Hugel aufgeschreckt, der aus dem Park auf der anderen Straßenseite auf ihn zustürmte. Die beiden Herren trafen sich zwischen den korinthischen Säulen, die die Eingangstür des Bürgermeisters umrahmten.
»Hugel«, rief McClellan, »was machen Sie denn hier? Um Gottes willen, Mann, Sie sehen aus, als hätten Sie seit Tagen nicht mehr geschlafen.«
»Ich musste Sie unbedingt erwischen.« Der Coroner war völlig außer Atem. »Banwell war es.«
»Was?«
»George Banwell hat Miss Riverford umgebracht.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich«, erwiderte der Bürgermeister. »Ich kenne Banwell nun schon seit zwanzig Jahren.«
»Vom ersten Moment an, schon als ich ihr Apartment betreten habe, hat er versucht, die Ermittlungen zu blockieren. Er hat gedroht, mir den Fall entziehen zu lassen. Und er hat sogar versucht, die Autopsie zu verhindern.«
»Er kennt den Vater des Mädchens, begreifen Sie das nicht?«
»Wieso sollte das gegen eine Autopsie sprechen?«
»Hugel, die meisten Leute würden sich nicht darüber freuen, wenn die Leiche ihrer Tochter auseinandergesägt wird.«
Wenn die Worte des Bürgermeisters als Spitze gegen Hugels Mangel an Sensibilität gedacht waren, so verfehlten sie ihre Wirkung völlig. »Die Beschreibung des Mörders passt in jeder Hinsicht auf ihn. Er wohnt in dem Haus; er ist ein Freund der Familie, dem sie jederzeit die Tür geöffnet hätte; und er hat ihre gesamte Wohnung leer räumen lassen, bevor Littlemore sie untersuchen konnte.«
»Sie hatten sie doch bereits untersucht«, entgegnete der Bürgermeister.
»Keineswegs. Ich habe mich nur im Schlafzimmer umgesehen. Littlemore sollte den Rest der Wohnung übernehmen.«
»Hat Banwell denn gewusst, dass Littlemore später kommen würde? Haben Sie es ihm gesagt?«
»Nein«, knurrte der Coroner. »Aber wie erklären Sie sich seinen Schrecken, als er gestern auf der Straße von ferne Miss Acton gesehen hat?« Kurz berichtete er dem Bürgermeister, was er von Littlemore über die gestrigen Ereignisse erfahren hatte. »Banwell wollte fliehen, weil er Angst hatte, dass sie ihn als ihren Angreifer identifizieren könnte.«
»Unsinn«, widersprach der Bürgermeister. »Ich habe mich unmittelbar danach mit ihm im Hotel getroffen. Ist Ihnen klar, dass die Banwells und die Actons sehr eng miteinander befreundet sind? Harcourt und Mildred Acton halten sich zurzeit auf Georges Landsitz auf.«
»Sie sagen, er kennt die Actons?« Hugel fuchtelte wild mit den Armen. »Das ist doch der Beweis! Er ist der Einzige, der beide Opfer kennt.«
Der Bürgermeister betrachtete den Coroner ungerührt. »Was haben Sie da eigentlich an Ihrer Jacke, Hugel? Sieht aus wie Ei.«
»Es ist auch Ei.« Hugel wischte mit einem gelben Taschentuch an seinem Kragen herum. »Damit haben mich diese Halbstarken auf der anderen Seite des Parks beworfen. Wir müssen Banwell unverzüglich verhaften.«
Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. Die Einwohnerschaft an der Südseite des Washington Square war nicht besonders vornehm. McClellan hatte es nicht geschafft, eine Bande von Halbwüchsigen aus dem Südwestzipfel des Parks zu vertreiben. Möglicherweise war die Nähe des Bürgermeisterhauses sogar ein zusätzlicher Anreiz für die dummen Streiche dieser Rabauken. McClellan trat auf den Pferdewagen zu, der auf ihn wartete. »Sie überraschen mich, Hugel. Eine Spekulation nach der anderen.«
»Es wird keine Spekulation mehr sein, wenn Sie noch einen Mordfall am Hals haben.«
»George Banwell hat Miss Riverford nicht getötet«, stellte McClellan fest.
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich weiß es eben. Und jetzt will ich nichts mehr hören von diesen läppischen Verleumdungen. Fahren Sie nach Hause. In diesem Zustand können Sie nicht ins Leichenschauhaus. Ruhen Sie sich aus. Das ist ein Befehl.«
Die Adresse 782 Eighth Avenue – wo Chong Sing nach Littlemores Informationen das Apartment 4C bewohnte – war ein vierstöckiges Mietshaus: schmuddelig, heruntergekommen, mit duftenden, rot gebratenen Schweinestücken und bluttriefenden Enten ohne Kopf vor den Fenstern im ersten Stock, hinter denen sich ein chinesisches Restaurant befand. Gleich darunter im
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