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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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seinem Onkel wiedererkennt. Claudius zu töten wäre zugleich eine Inszenierung seiner eigenen ödipalen Wünsche und eine Art Selbsttötung. Deswegen ist Hamlet gelähmt. Deswegen vermag er nicht zu handeln. Er ist ein Hysteriker, der unter der überwältigenden Schuld ödipaler Wünsche leidet, die er nicht erfolgreich verdrängt hat.
    Trotz allem war ich der Meinung, dass es eine andere Erklärung geben musste. Es musste eine andere Deutung von Sein oder Nichtsein geben. Wenn ich nur das Geheimnis dieses Monologs ergründen konnte, so meine Hoffnung, würde das auch meine Bedenken gegen die gesamte Ödipustheorie rechtfertigen. Doch bisher war mir das nicht gelungen.
    Beim Frühstück fand ich Brill und Ferenczi am selben Tisch wie gestern. Brill machte sich gerade mannhaft über ein Steak mit Eiern her. Ferenczi war weniger munter und ließ die Absicht verlauten, den ganzen Tag keinen Bissen anzurühren. Beide wirkten ein wenig gezwungen in ihrer Unterhaltung mit mir; anscheinend hatte ich sie bei einem vertraulichen Gespräch gestört. »Die Kellner«, ließ sich Ferenczi vernehmen, »alle sind Neger. Ist das gewöhnlich in Amerika?«
    »Nur in den besseren Etablissements«, erwiderte Brill. »Die New Yorker waren ursprünglich gegen die Sklavenbefreiung, vergessen Sie das nicht, bis ihnen die Vorteile klar wurden: Sie konnten ihre Schwarzen als Diener behalten, bloß dass das Ganze jetzt weniger teuer für sie war.«
    »New York war nicht gegen die Sklavenbefreiung«, warf ich ein.
    »Und die Proteste von der Straße?«, fragte Brill. Ferenczi ging dazwischen. »Müssen Sie ihn ignorieren, Younger, Sie müssen.«
    »Ja, ignorieren Sie mich nur.« Brill spielte den Gekränkten. »Das machen doch alle hier. Umso mehr Aufmerksamkeit dürfen wir dafür Jung schenken, er ist ja schließlich ›wichtiger als wir anderen zusammen‹.«
    Mir wurde klar, dass sie vor meinem Erscheinen über Jung geredet hatten. Ich fragte sie, ob sie mir Jungs Verhältnis zu Freud etwas näher erklären konnten. Sie folgten meiner Bitte.
    Erst vor Kurzem – im Verlauf der letzten zwei Jahre – hatte Freud in der Schweiz eine kleine Schar neuer Anhänger gefunden. Der prominenteste von ihnen war Jung. Die Züricher waren bei Freuds älteren Wiener Schülern nicht gut angeschrieben, deren Neid sich noch verstärkt hatte, als Freud Jung zum Chefredakteur des Internationalen Jahrbuchs für psychologische und psychotherapeutische Forschung machte, der ersten Fachzeitschrift, die sich mit Psychoanalyse beschäftigte. In dieser Position konnte Jung über die Qualität der Arbeiten aller anderen befinden und sogar ihre Veröffentlichung ablehnen. Die Wiener gaben zu bedenken, dass Jung die »sexuelle Ätiologie« – Freuds Kernentdeckung, dass Hysterie und andere Geisteskrankheiten durch verdrängte sexuelle Wünsche hervorgerufen werden – nicht voll akzeptiert hatte. Sie waren der Ansicht, dass Jungs Ernennung eine einseitige Bevorzugung darstellte. Und damit, so fügte Brill hinzu, lagen die Wiener weitaus richtiger, als sie es ahnten. Freud bevorzugte Jung nicht nur, sondern hatte ihn bereits als »Kronprinzen« und »Erben« auserkoren – als den künftigen Anführer der Bewegung.
    Ich ließ unerwähnt, dass ich diese Aussage schon gestern Abend aus Freuds eigenem Mund gehört hatte; vor allem schwieg ich deshalb, weil ich andernfalls auch Freuds Missgeschick hätte schildern müssen. Stattdessen merkte ich an, dass Jung anscheinend sehr sensibel gegenüber Freuds Meinung von ihm war.
    »Ach, sind wir alle«, entgegnete Ferenczi. »Aber ist keine Frage, Freud und Jung haben starke Vater-Sohn-Beziehung. War ich Zeuge auf dem Schiff. Daher Jung reagiert sehr empfindlich auf jeden Tadel. Er wird wütend. Vor allem wegen Übertragung. Jung hat – wie muss ich sagen? – andere Philosophie von Übertragung.«
    »Wirklich? Hat er was dazu veröffentlicht?«, fragte ich.
    Ferenczi wechselte einen Blick mit Brill. »Nicht genau so. Ich spreche von seinem Umgang mit Patienten. Mit … äh … Patientinnen. Sie verstehen.«
    Mir dämmerte es allmählich.
    »Er schläft mit ihnen«, flüsterte Brill. »Er ist berüchtigt.«
    »Ich selbst habe nie«, erklärte Ferenczi. »Aber ich habe noch nicht erlebt viele Versuchungen, also Glückwünsche sind leider noch verfrüht.«
    »Weiß das auch Dr. Freud?«
    Jetzt flüsterte auch Ferenczi. »Eine Patientin von Jung hat geschrieben an Freud, sehr aufgeregt, hat alles berichtet. Freud hat mir Briefe

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