Morddeutung: Roman (German Edition)
Coroners konnte er sich zwei ganze Stockwerke eines Hauses in einem feineren Stadtteil nicht leisten.
Hugel hasste seine Zimmer. An den Decken prangten die gleichen braunen Wasserflecken, die er in seinem Büro ertragen musste. Hugel fluchte leise vor sich hin. Er war der Coroner der Stadt New York. Weshalb musste er in so einem heruntergekommenen Quartier hausen? Warum musste sein Anzug so schäbig sein im Vergleich zu dem eleganten, maßgeschneiderten Jackett eines George Banwell?
Die Beweise gegen Banwell reichten ohne Weiteres für eine Verhaftung. Warum wollte der Bürgermeister das nicht einsehen? Wenn er Banwell nur selbst festnehmen könnte! Aber als Coroner war er nicht befugt, Verhaftungen vorzunehmen. In Hugel rumorte es. Er ging noch einmal alles durch. Es musste noch mehr Material geben. Es musste einen Ansatz geben, damit die ganze Geschichte zusammenpasste. Wenn Elizabeth Riverfords Mörder ihre Leiche aus dem Leichenschauhaus gestohlen hatte, weil auf der Leiche Beweise waren, was konnten das dann für Beweise sein? Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er hatte völlig vergessen, dass er in Miss Riverfords Wohnung Fotografien gemacht hatte. War es nicht möglich, dass eine dieser Fotografien den fehlenden Hinweis enthielt?
Hugel kletterte aus dem Bett und kleidete sich hastig an. Er konnte die Bilder selbst entwickeln. Gleich neben dem Leichenschauhaus verfügte er über eine eigene Dunkelkammer, die er nur selten benutzte. Obwohl – lieber nicht; es war sicherer, wenn Louis Riviere, der Fotografieexperte der Polizeibehörde, diese Aufgabe übernahm.
Um neun ging ich zu Miss Actons Zimmer. Niemand war da. Auf gut Glück erkundigte ich mich am Empfang, wo tatsächlich eine Nachricht für mich hinterlegt war, in der mir Miss Acton mitteilte, dass sie um elf wieder zurück sein würde. Wenn ich es wünschte, könnte ich sie dann aufsuchen.
Vom psychoanalytischen Standpunkt aus war das alles ganz verkehrt. Erstens »suchte« ich Miss Acton nicht »auf«. Zweitens sollte nicht die Patientin, sondern der Arzt den Zeitplan festlegen.
Es ergab sich, dass ich Miss Acton doch um elf aufsuchte. Wie am Tag zuvor saß sie gemütlich auf ihrem Sofa und trank, eingerahmt von zwei offenen Glastüren auf den Balkon, ihren Tee. Ohne aufzublicken, forderte mich Miss Acton auf, Platz zu nehmen. Auch das irritierte mich. Sie hatte es zu gemütlich. Der Schauplatz für die Psychoanalyse hätte eine Praxis sein müssen – meine Praxis -, in der ich den äußeren Rahmen bestimmte.
Dann blickte sie auf, und ich war vollkommen bestürzt. Sie zitterte vor Aufregung. »Wem haben Sie es erzählt?« Sie klang nicht anklagend, sondern furchtsam. »Was … Mr. Banwell mit mir gemacht hat?«
»Nur Dr. Freud. Warum? Was ist passiert?«
Sie suchte den Blick von Mrs. Biggs, die ein gefaltetes Blatt Papier hervorholte und es mir reichte. Es war eine mit Tinte geschriebene Nachricht: Halt den Mund.
»Ein Junge«, erklärte Miss Acton fahrig. »Auf der Straße – er hat es mir in die Hand gedrückt und ist weggerannt. Glauben Sie denn, dass ich von Mr. Banwell angegriffen wurde?«
»Glauben Sie es?«
»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Warum kann ich mich nicht erinnern? Können Sie mich nicht dazu bringen, dass es mir wieder einfällt? Bitte, Dr. Younger, können Sie mir nicht helfen?«
So hatte ich Miss Acton noch nie erlebt. Es war das erste Mal, dass sie mich um Unterstützung bat. Und es war auch das erste Mal seit ihrer Ankunft im Hotel, dass sie wirklich verängstigt schien. »Ich kann es versuchen«, antwortete ich.
Mrs. Biggs hatte dazugelernt und verließ diesmal von sich aus das Zimmer. Ich forderte das Mädchen sogleich auf, sich hinzulegen, obwohl ihr das offensichtlich nicht gefiel. Sie war so aufgeregt, dass sie kaum stillhalten konnte.
»Miss Acton«, begann ich, »denken Sie bitte drei Jahre zurück, an die Zeit vor dem Vorfall auf dem Dach. Sie waren mit ihren Eltern im Landhaus der Banwells.«
»Warum fragen Sie mich nach diesem alten Zeug?«, platzte sie heraus. »Ich will mich an das erinnern, was vor zwei Tagen war, nicht vor drei Jahren.«
»Sie wollen sich nicht an das erinnern, was vor drei Jahren passiert ist?«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Aber Sie haben es gesagt. Dr. Freud ist der Ansicht, dass Sie damals vielleicht etwas gesehen haben, was Sie vergessen haben und was Sie jetzt davon abhält, sich an die jüngsten Ereignisse zu erinnern.«
»Ich habe nichts vergessen«,
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