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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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entgegnete sie.
    »Dann haben Sie also was gesehen.«
    Sie schwieg.
    »Sie müssen sich nicht schämen, Miss Acton.«
    »Hören Sie endlich auf damit!« Der zornige Ausbruch des Mädchens traf mich völlig unvorbereitet. »Warum soll ich mich schämen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Gehen Sie.«
    »Miss Acton.«
    »Gehen Sie. Ich mag Sie nicht. Sie sind nicht intelligent.«
    Ich bewegte mich nicht von der Stelle. »Was haben Sie gesehen?« Da sie keine Antwort gab und entschlossen in eine andere Richtung starrte, stand ich auf und ging das Risiko ein. »Es tut mir leid, Miss Acton. Ich würde Ihnen gern helfen, aber ich kann nicht.«
    Sie holte tief Luft. »Ich habe meinen Vater mit Clara Banwell gesehen.«
    »Können Sie genauer beschreiben, was Sie beobachtet haben?«
    »Na schön, wenn es sein muss.«
    Ich nahm wieder Platz.
    »Im Erdgeschoss gibt es eine große Bibliothek. Ich konnte oft nicht schlafen, und wenn ich wieder mal wach war, bin ich immer dorthin gegangen. Ich konnte bei Mondlicht lesen, nicht mal eine Kerze war nötig. Eines Nachts war die Tür zur Bibliothek angelehnt. Ich hab gleich gemerkt, dass jemand drin war. Das Auge am Spalt, habe ich hineingespäht. Mein Vater saß mit dem Gesicht in meine Richtung auf Mr. Banwells Lehnstuhl, dem Stuhl, den ich auch immer benutzt habe. Ich konnte ihn im Mondschein sehen – er hatte den Kopf auf abstoßende Weise zurückgeworfen. Clara hat vor ihm gekniet. Ihr Kleid war aufgehakt und war bis unter die Taille nach unten geglitten. Ihr Rücken war völlig nackt. Sie hat einen wunderbaren Rücken, Dr. Younger, vollkommen weiß und makellos, das gleiche Weiß wie bei … bei … und geformt wie eine Sanduhr oder ein Cello. Sie machte … ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll … wellenförmige Bewegungen. Ihr Kopf hat sich in langsamem Rhythmus gehoben und gesenkt. Ihre Hände konnte ich nicht erkennen; sie waren wahrscheinlich vor ihr. Ein- oder zweimal hat sie sich das Haar über die Schulter geworfen, aber ohne ihre Auf und Ab zu unterbrechen. Es war wie Hypnose für mich. Damals habe ich natürlich nicht begriffen, was ich da sah. Ich fand ihre Bewegung einfach nur schön, wie das sanfte Rollen von Wellen am Ufer. Trotzdem war mir klar, dass es etwas Verbotenes war, was sie da machten.«
    »Fahren Sie fort.«
    »Dann hat mein Vater ein … widerwärtiges Krächzen von sich gegeben. Ich habe mich gefragt, wie Clara diesen Laut ertragen kann. Aber sie hat ihn nicht nur ertragen. Ihr Rhythmus wurde daraufhin noch schneller und bestimmter. Er hat die Stuhllehnen umklammert. Ihr Kopf ging immer schneller auf und ab. Ich war zwar fasziniert, aber ich wollte nicht mehr zuschauen. Auf Zehenspitzen bin ich zurück in mein Zimmer geschlichen.«
    »Und dann?«
    »Nichts weiter. Das ist alles.« Wir sahen uns an. »Ich hoffe, damit ist wenigstens Ihre Neugier befriedigt, Dr. Younger, denn ich glaube nicht, dass jetzt meine Amnesie geheilt ist.«
    Ich bemühte mich, das geschilderte Erlebnis von Miss Acton psychoanalytisch zu durchleuchten. Es erfüllte die Voraussetzungen eines Traumas, aber es gab eine Schwierigkeit: Offensichtlich war Miss Acton nicht traumatisiert worden. »Hatten Sie danach irgendwelche physischen Beschwerden? Einen Stimmverlust zum Beispiel?«
    »Nein.«
    »Eine Lähmung irgendwo am Körper? Eine Erkältung?«
    »Nein.«
    »Hat Ihr Vater herausgefunden, dass Sie ihn beobachtet haben?«
    »Dafür ist er zu dumm.«
    Ich versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. »Wenn Sie jetzt an Ihren Gedächtnisverlust denken, was fällt Ihnen da ein?«
    »Nichts«, erwiderte sie.
    »Das gibt es nicht, dass man gar nichts im Kopf hat.«
    »Das haben Sie mir schon letztes Mal erzählt!« Nach ihrem verärgerten Aufschrei verstummte sie. Sie fixierte mich mit ihren blauen Augen. »Nur eine einzige Sache, die Sie gemacht haben, hat mich auf den Gedanken gebracht, dass Sie mir vielleicht helfen können. Und das hatte nichts mit all Ihren Fragen zu tun.«
    »Und was war das?«
    Sie senkte den Blick. »Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen soll.«
    »Warum?«
    »Ach, spielt keine Rolle. Es war auf dem Polizeirevier.«
    »Dort habe ich nur Ihren Hals untersucht.«
    Sie sprach leise, den Kopf abgewandt. »Ja. Als Sie meinen Hals berührt haben, hat mich ganz kurz eine Ahnung gestreift – ein Bild, eine Erinnerung. Ich weiß nicht, was es war.«
    Diese Eröffnung war unerwartet, aber durchaus einleuchtend. Freud hatte entdeckt, dass eine körperliche Berührung

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