Morddeutung: Roman (German Edition)
der Wissenschaft, so wie wir. Und ein Mann der Leidenschaften. Einer, der seinem Verlangen folgt. Ein Mann, der für sein Gedeihen mehr als nur eine Frau braucht. In dieser Runde hier können wir ganz offen über solche Dinge sprechen. Diese sogenannten Männer, die nicht handeln, die ihre Begierden schwären lassen wie Wunden, deren Väter Hausierer waren, die sich uns immer unterlegen gefühlt haben – nur sie können sich derart niederträchtige, bestialische Fantasien ausdenken, die Gott und den Menschen in die Gosse schleudern. Es muss doch schwer für Sie sein, mit solchen Theorien in Zusammenhang gebracht zu werden.«
Jung hatte zunehmend Mühe, dem Strom der Worte zu folgen. Der Alkohol musste ihm zu Kopf gestiegen sein. Dieser Herr schien ihn zu kennen, aber woher? »Manchmal ist es in der Tat schwer«, antwortete er langsam.
»Ich bin keineswegs antisemitisch eingestellt. Da müssen Sie nur Sachs hier fragen.« Er deutete auf den Mann mit dem schütteren Haar. »Ganz im Gegenteil, ich bewundere die Juden. Ihr Geheimnis ist die Rassenreinheit, ein Prinzip, das sie viel besser verstanden haben als wir.« Sachs ließ sich nichts anmerken; der beleibte Mann schürzte nur seine fleischigen Lippen. Dana nahm den Faden wieder auf. »Aber als ich letzten Sonntag zu unserem blutenden Heiland aufgeblickt habe und an diesen Wiener Juden dachte, der gesagt hat, dass unsere Leidenschaft für Christus sexueller Natur ist, ist mir das Beten schwergefallen. Sehr schwer. Ich kann mir vorstellen, dass Sie auf ähnliche Schwierigkeiten gestoßen sind. Oder müssen Freuds Anhänger die Kirche aufgeben?«
»Ich gehe zur Kirche«, brachte Jung unbeholfen hervor.
»Ich persönlich«, bemerkte Dana, »kann diesen ganzen Rummel um die Psychotherapie sowieso nicht verstehen. Die Emmanuels, New Thought, Dr. Quackenbos …«
»Quacksalber, genau«, schallte es gewichtig aus den buschigen Koteletten.
»Mesmerismus«, fuhr Dana fort, »Psychoanalyse – für mich sind das alles nur Sekten. Aber die Hälfte der Frauen in Amerika schreien danach, und da ist es besser, wenn sie nicht von der falschen Quelle trinken. Glauben Sie mir, sie werden von Ihrer Quelle trinken, wenn sie in der New York Times von Ihnen gelesen haben. Also, der langen Rede kurzer Sinn ist: Wir können Sie zum berühmtesten Psychiater in Amerika machen. Aber Ochs kann nichts über Sie schreiben, wenn aus Ihren Vorlesungen in Fordham nicht unmissverständlich hervorgeht, dass Sie keinen Wert auf freudsche Obszönitäten legen. Einen schönen Tag noch, Dr. Jung.«
Das Pochen an der Tür von Miss Actons Zimmer hielt an, während der Türgriff hin und her gedreht wurde. Schließlich flog die Tür auf, und fünf Personen stürmten herein. Drei von ihnen kannte ich: Bürgermeister McClellan, Detective Littlemore und George Banwell. Dazu noch ein Mann und eine Frau, beide offensichtlich vermögend.
Der Mann war vermutlich Ende vierzig, hatte helle Haut, die sich nach einem Sonnenbrand schälte, ein spitzes Kinn, eine äußerst hohe Stirn und eine weiße Mullbinde über dem linken Auge. Es war nicht zu übersehen, dass er Miss Actons Vater war, wenngleich die langen Gliedmaßen, die bei ihr so anmutig wirkten, bei ihm weichlich aussahen und die bei ihr so zarten femininen Züge in seinem Fall nur ein unsicheres Wesen bezeugten. Die Frau, die natürlich Miss Actons Mutter sein musste, war nur knapp über eins fünfzig. Ihr Leibesumfang war größer als der ihres Gatten, sie hatte einiges an Schmuck und Bemalung im Gesicht und trug Schuhe mit gefährlich hohen Absätzen, vermutlich um ein paar Zentimeter dazuzugewinnen. Möglicherweise war sie einmal attraktiv gewesen. Sie ergriff als Erste das Wort. »Nora, du erbarmenswertes, unglückseliges Mädchen! Ich habe Qualen durchlitten, nachdem ich die furchtbare Nachricht erhalten hatte. Wir sind stundenlang gefahren, um bei dir zu sein. Harcourt, willst du hier eigentlich nur rumstehen?«
Noras Vater entschuldigte sich bei der fülligen Dame und geleitete sie mit ausgestrecktem Arm sicher zu einem Stuhl, auf den sie sich mit einem lauten Aufstöhnen der Erschöpfung fallen ließ. Der Bürgermeister stellte mich Acton und dessen Frau Mildred vor. Es erwies sich, dass die Gruppe gerade in dem Augenblick eingetroffen war, als sich ein Anrufer beim Empfang über laute Geräusche aus Miss Actons Suite beschwerte. Ich versicherte ihnen, dass alles in Ordnung war. Mir wäre allerdings wohler gewesen, wenn nicht an der
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