Morddeutung: Roman (German Edition)
Druckstellen zu sehen. Mit ihren zarten Fingern nahm sie meine rechte Hand und zog sie zu ihrem Hals, so wie sie es bei unserer ersten Begegnung gemacht hatte. Mit großer Vorsicht berührte ich die weiche Haut unter ihrem Kinn, um die hässlichen blauen Flecken zu vermeiden.
»Sehen Sie etwas?«, fragte ich.
»Nein«, flüsterte sie. »Machen Sie es einfach noch mal so.«
Ich gab keine Antwort. Ich wusste nicht, ob sie das meinte, was ich auf dem Polizeirevier getan hatte, oder das von gerade eben.
»Würgen Sie mich«, forderte sie.
Ich bewegte mich nicht.
»Bitte, würgen Sie mich.«
Ich legte einen Finger und den Daumen an die Stelle auf ihrem Hals, wo sich die rötlichen Abdrücke befanden. Sie biss sich auf die Lippe, wahrscheinlich hatte ich ihr wehgetan. Die Male verschwanden unter meiner Hand, und von dem Überfall waren keine Spuren mehr zu sehen. Nur noch ihr exquisiter Hals lag vor mir. Ich drückte ihre Kehle zusammen. Sie schloss sofort die Augen.
»Fester«, sagte sie leise.
Mit der linken Hand hielt ich sie am unteren Rücken fest. Mit der rechten würgte ich sie. Sie machte ein Hohlkreuz, und ihr Kopf sank zurück. Sie umklammerte meine Hand, ohne sie wegzuziehen. »Sehen Sie etwas?«, fragte ich. Schwach schüttelte sie den Kopf, die Augen noch immer geschlossen. Ich zog sie an mich und verstärkte den Druck um ihren Hals. Ihr Atem stockte und hörte ganz auf. Ihre korallenroten Lippen öffneten sich.
Es fällt mir nicht leicht, die ganz und gar ungehörigen Reaktionen einzugestehen, die mich überkamen. Noch nie hatte ich einen so vollkommenen Mund gesehen. Ihre leicht geschwollenen Lippen bebten. Ihre Haut war wie reine Sahne. Ihr langes Haar funkelte wie ein vom Sonnenlicht vergoldeter Wasserfall. Ich zog sie noch enger an mich. Eine ihrer Hände lang auf meiner Brust. Ich weiß nicht, wie sie dort hingelangt war.
Plötzlich fiel mir auf, dass ihre blauen Augen direkt in meine blickten. Wann hatte sie sie aufgeschlagen? Ihre Lippen formten ein Wort. Ich hatte es nicht bemerkt. Das Wort war Schluss .
Ich ließ ihren Hals los in der Erwartung, dass sie verzweifelt nach Atem ringen würde. Aber sie tat es nicht. Stattdessen sagte sie so leise, dass ich es kaum hören konnte: »Küssen Sie mich.«
Ich muss zugeben, dass ich nicht weiß, wie ich auf diese Aufforderung reagiert hätte. Doch genau in diesem Moment ertönte plötzlich ein lautes Klopfen an der Tür, gefolgt vom Klirren eines wild im Schloss gedrehten Schlüssels. Ich ließ sie sofort los. In Sekundenschnelle hatte sie die Teekanne aufgehoben und sie zurück auf den Tisch gestellt. Wir wandten uns beide zur Tür.
»Ich erinnere mich«, flüsterte sie mir beschwörend zu, als sich der Türgriff drehte. »Ich weiß jetzt wieder, wer es war.«
KAPITEL ZWÖLF
Am Mittag des 1. September wurde C. G. Jung von Smith Ely Jelliffe – dem Verleger, Arzt und Professor für Geisteskrankheiten an der Fordham University – in einen Club an der Fifty-third Street mit Blick auf den Park zum Mittagessen mitgenommen. Freud war nicht eingeladen, ebenso wenig wie Ferenczi, Brill und Younger. Jung ließ sich durch die Ausgrenzung seiner Kollegen nicht beirren. Im Gegenteil, er sah in seiner Bevorzugung ein weiteres Zeichen seines wachsenden internationalen Ansehens. Ein weniger großherziger Mann hätte so etwas laut hinausposaunt und es den anderen unter die Nase gerieben. Doch er, Jung, nahm seine Pflicht zur Nächstenliebe ernst und schwieg wie ein Grab.
Allerdings war es schmerzlich, so viel verheimlichen zu müssen. Es hatte schon am ersten Tag nach der Abfahrt von Bremen begonnen. Jung hatte natürlich nicht direkt gelogen. Dazu würde er sich auch nie herablassen. Außerdem war es nicht seine Schuld; sie zwangen ihn ja dazu, Dinge zu verschweigen.
Beispielsweise hatten Freud und Ferenczi Zweite-Klasse-Plätze auf der George Washington gebucht. Was konnte er dafür? Um sie nicht zu beschämen, hatte er sagen müssen, dass es nur noch Erste-Klasse-Kabinen gab, als er sein Ticket kaufte. Dann hatte er in der ersten Nacht an Bord diesen Traum gehabt. Seine Aussage war unzweideutig und wahr: Er, Jung, war dabei, Freuds Ruf und Erkenntniskraft zu überflügeln. Also hatte er aus Rücksicht auf Freuds empfindlichen Stolz erklärt, dass die Knochen, die er in dem Traum entdeckt hatte, nicht von Freud stammten, sondern von seiner Frau. Klugerweise hatte er sogar hinzugefügt, dass die Knochen nur zum Teil von seiner Frau und zum anderen
Weitere Kostenlose Bücher