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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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hinteren Wand die Scherben der Teetasse gelegen hätten. Zum Glück bemerkten sie wohl nichts davon, weil sie der Wand den Rücken zugekehrt hatten.
    »Es wird alles wieder gut, Nora«, sagte Mr. Acton. »Vom Bürgermeister wissen wir, dass nichts an die Presse gelangt ist – Gott sei Dank.«
    »Warum habe ich nur auf dich gehört?«, bestürmte Mildred Acton ihre Tochter. »Ich habe doch gesagt, wir können dich nicht allein in New York zurücklassen. Hab ich es nicht gesagt, Harcourt? Siehst du jetzt, was passiert ist? Ich dachte, ich sterbe, als ich das gehört habe. Biggs! Wo ist diese Biggs? Sie soll deine Sachen zusammenpacken. Wir müssen dich sofort hier wegbringen, Nora. Ich glaube, der Vergewaltiger ist hier im Hotel. Ich habe ein Gespür für solche Sachen. Kaum dass ich durch die Tür war, habe ich schon seine Blicke auf mir gespürt.«
    »Auf dir, meine Liebe?«, fragte Acton.
    Ich kann nicht behaupten, dass Miss Acton etwas von dem Gefühl von Zuneigung und Geborgenheit anzumerken war, das man vielleicht bei einer Tochter erwarten mag, die nach einer längeren und ereignisreichen Trennung ihre Eltern begrüßt. Und angesichts der Bemerkungen, die ihr bisher um die Ohren geflogen waren, konnte ich ihr da auch keinen Vorwurf machen. Das Merkwürdige war, dass Miss Acton bislang noch überhaupt kein Wort gesagt hatte. Sie hatte mehrere Anläufe zum Sprechen genommen, ohne letztlich einen Ton hervorzubringen. Plötzlich liefen ihre Wangen rot an. Da wurde mir klar, dass sie erneut ihre Stimme verloren hatte. Zumindest glaubte ich das, ehe Miss Acton mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme zu reden anfing. »Ich bin nicht vergewaltigt worden, Mama.«
    »Still, Nora«, mahnte ihr Vater. »So ein Wort sagt man nicht.«
    »Das kannst du doch nicht wissen, du Arme!«, jammerte ihre Mutter. »Du erinnerst dich doch nicht an das Verbrechen. Du wirst es nie wissen.«
    Jetzt war die Gelegenheit für Miss Acton gekommen, zu bekennen, dass sie ihr Gedächtnis wiedererlangt hatte. Sie tat es nicht. Stattdessen antwortete das Mädchen: »Ich bleibe hier im Hotel, um meine Behandlung fortzusetzen. Ich will nicht nach Hause.«
    »Hörst du das?« Mildred Acton bedachte ihren Mann mit einem vorwurfsvollen Blick.
    »Zu Hause fühle ich mich nicht sicher«, erklärte Miss Acton. »Es kann sein, dass der Mann, der mich überfallen hat, dort auf mich lauert. Mr. McClellan, das haben Sie doch selbst am Sonntag gesagt.«
    »Das Mädchen hat recht«, meldete sich der Bürgermeister. »Hier im Hotel ist sie viel sicherer. Der Mörder weiß nicht, dass sie hier ist.«
    Wegen der Nachricht, die Miss Acton auf der Straße erhalten hatte, wusste ich, dass das nicht stimmte. Und Miss Acton wusste es natürlich auch. Ich sah sogar, wie sich bei den Worten des Bürgermeisters ihre rechte Hand zusammenballte; eine Ecke des Zettels ragte aus ihrer Faust. Aber sie blieb stumm und blickte nur von McClellan zu ihren Eltern, wie um zu unterstreichen, dass er ihre Auffassung bestätigt hatte. Mir fiel auf, dass sie Mr. Banwells forschenden Blick mied.
    Banwell beäugte Nora mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck. In körperlicher Hinsicht war er die dominante Erscheinung im Raum. Bis auf mich überragte er alle anderen, und er hatte eine breite, athletische Brust. Sein dunkles Haar war mit Brillantine nach hinten gekämmt und an den Schläfen attraktiv ergraut. Sein Blick hing an Nora. Es mag lächerlich erscheinen, und ein anderer Beobachter hätte es sicherlich bestritten, aber wenn ich seine Miene beschreiben soll, kann ich nur sagen, dass er auf mich den Eindruck machte, als wollte er ihr Gewalt antun. Als er das Wort ergriff, verriet seine Stimme nichts von solchen Gefühlen. »Am besten ist bestimmt, wir bringen Nora aus der Stadt.« Er klang barsch, aber ehrlich besorgt um ihre Sicherheit. »Mein Landsitz wäre doch gut geeignet. Clara kann sie hinbringen.«
    »Ich möchte hierbleiben.« Nora blickte zu Boden.
    »Wirklich?« Banwell ließ nicht so schnell locker. »Deine Mutter glaubt, dass der Mörder hier im Hotel ist. Woher willst du wissen, dass er dich nicht in diesem Augenblick beobachtet?«
    Als Banwell mit ihr redete, lief Miss Actons Gesicht rot an. Ihr ganzer Körper, so schien es mir, war angespannt vor Angst.
    Ich teilte den Anwesenden mit, dass ich leider gehen musste. Miss Acton blickte beunruhigt zu mir auf. Dann, als wäre mir gerade etwas eingefallen, fügte ich hinzu: »Ach, Miss Acton, Sie bekommen noch Ihr Rezept –

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