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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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gehört hatte, konnte ich nicht an Banwells Unschuld glauben. Nur subjektiv, natürlich. Objektiv hatte ich keinen Grund mehr für Zweifel und Proteste.
    Nora weigerte sich, nach Hause zu gehen. Ihr Vater beschwor sie. Ihre Mutter war empört über den Starrsinn ihrer Tochter, wie sie es nannte. Erst der Bürgermeister brachte Bewegung in die verfahrene Situation. Nachdem er die anonyme Nachricht gelesen hatte, war klar, dass das Hotel nicht mehr sicher war. Aber das Haus der Actons konnte gesichert werden. Auf jeden Fall war es leichter zu bewachen als ein großes Hotel mit vielen Eingängen. Er würde vor und hinter dem Haus Polizisten postieren, und zwar Tag und Nacht. Außerdem erinnerte er Miss Acton daran, dass sie noch nicht volljährig war. Nach dem Gesetz war er dazu verpflichtet, den Wünschen ihres Vaters zu entsprechen – notfalls auch gegen ihren Willen.
    Eigentlich dachte ich, dass Miss Acton sich lauthals zur Wehr setzen würde. Doch sie gab nach, allerdings unter der Bedingung, ihre medizinische Behandlung am nächsten Vormittag fortsetzen zu dürfen. »Vor allem«, fügte sie hinzu, »da ich jetzt weiß, dass ich meinem Gedächtnis nicht trauen kann.« Diese Worte sprach sie mit großer Überzeugung, doch es war nicht zu erkennen, ob sie tatsächlich an der Zuverlässigkeit ihres Gedächtnisses zweifelte oder all jene tadeln wollte, die ihr nicht glaubten.
    Danach blickte sie mich kein einziges Mal mehr an. Die schweigsame Fahrt im Aufzug war qualvoll. Miss Acton hielt sich mit großer Würde, ihre Mutter dagegen schien alles, was ihr begegnete, als persönliche Beleidigung aufzufassen. Nachdem vereinbart worden war, dass ich das Haus der Familie am Gramercy Park früh am nächsten Tag besuchen sollte, fuhren die Actons mit einem Automobil davon. McClellan folgte ihrem Beispiel. Nach einem letzten, nicht gerade wohlwollenden Blick in meine Richtung setzte sich auch Banwell in seinen Pferdewagen und ließ Detective Littlemore und mich auf dem Gehsteig zurück.
    Der wandte sich sogleich an mich. »Sie hat Ihnen gesagt, dass es Banwell war?«
    »Ja.«
    »Und Sie glauben ihr, nicht wahr?«
    »Ja, ich glaube ihr.«
    »Kann ich Sie was fragen?« Littlemore sah mich an. »Sagen wir, eine Frau verliert das Gedächtnis. Plötzlich ist nichts mehr da. Und auf einmal kommt das Gedächtnis wieder zurück. Kann man dann darauf setzen, wenn es zurückkommt? Ich meine, kann man sich darauf verlassen?«
    »Nein«, erwiderte ich. »Die Erinnerungen können falsch sein. Es kann sich um eine Fantasie handeln, die für eine Erinnerung gehalten wird.«
    »Aber trotzdem glauben Sie ihr?«
    »Ja.«
    »Und was sagen Sie zu dem Ganzen, Doc?«
    »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Kann ich Ihnen jetzt auch eine Frage stellen, Detective? Was wollten Sie dem Bürgermeister oben in Miss Actons Suite sagen?«
    »Ich wollte ihn nur daran erinnern, dass Coroner Hugel – er leitet die Ermittlungen in dem Fall – Banwell ebenfalls für den Mörder gehalten hat.«
    »Gehalten hat? Hat er denn seine Meinung geändert?«
    »Na ja, jetzt kann er ihn nicht mehr für den Mörder halten, nicht nach dem, was der Bürgermeister gerade erzählt hat.«
    »Kann es nicht sein, dass Banwell Miss Acton überfallen hat und dass Miss Riverford von jemand anders umgebracht wurde?«
    »Nein«, antwortete der Detective. »Wir haben Beweise. Es war beide Male derselbe Kerl.«
    Ich ging wieder hinein, im Zweifel mit mir selbst, mit meiner Patientin, mit meiner Situation. War es vorstellbar, dass Banwell von McClellan gedeckt wurde? War Nora in ihrem Haus in Sicherheit? Plötzlich rief der Empfangschef meinen Namen. Soeben war ein Brief für mich abgegeben worden. Wie sich herausstellte, war er von G. Stanley Hall, dem Präsidenten der Clark University. Der Brief war lang – und äußerst beunruhigend.

     
    Vor dem Hotel steuerte Detective Littlemore auf den Droschkenstand zu.
    Von dem alten Kutscher hatte Littlemore gestern Nacht erfahren, dass der schwarzhaarige Mann – der das Balmoral am Sonntag gegen Mitternacht verlassen hatte – vor dem Hotel Manhattan in ein rot-grünes, benzinbetriebenes Taxi gestiegen war. Diese Information war für den Detective sehr aufschlussreich. Noch vor einem Jahrzehnt hatte es in Manhattan ausschließlich Pferdedroschken gegeben. Im Jahr 1900 gondelten hundert motorisierte Taxis durch die Stadt, aber diese waren elektrisch betrieben. Die elektrischen Taxis waren zwar beliebt, aber aufgrund ihrer vierhundert

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